Beiträge zur Begründrung der transfiniten Mengenlehre
"Hypotheses non fingo." [Newton.]
"Neque enim leges intellectui auf rebus damus
ad arbitrium nostrum, sed tanquam scribae fideles
ab ipsius naturae voce latas
et prolatas excipimus et describimus."
"Veniet tempus, quo ista quae nunc latent, in
lucem dies extrahat et longiorls aevi diligentia."
§1.
Der Mächtigkeitsbegriff oder die Kardinalzahl.
Unter einer "Menge" verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten m unsrer Anschauung oder unseres Denkens (welche die "Elemente" von M genannt werden) zu einem Ganzen.
In Zeichen drucken wir dies so aus:
Die Vereinigung mehrerer Mengen M, N, P,..., die keine gemeinsamen Elemente haben, zu einer einzigen bezeichnen wir mit
Die Elemente dieser Menge sind also die Elemente von M, von N, von P etc. zusammengenommen.
"Teil" oder "Teilmenge" einer Menge M nennen wir jede andere Menge M1, deren Elemente zugleich Elemente von M sind.
Ist M2 ein Teil von M1, M1 ein Teil von M, so ist auch M2 ein Teil von M.
Jeder Menge M kommt eine bestimmte "Mächtigkeit" zu, welche wir auch ihre "Kardinalzahl" nennen.
"Mächtigkeit" oder "Kardinalzahl" von M nennen wir den Allgemeinbegriff, welcher mit Hilfe unseres aktiven Denkvermögens dadurch aus der Menge M hervorgeht, das von der Beschaffenheit ihrer verschiedenen Elemente m und von der Ordnung ihres Gegebenseins abstrahiert wird.
Das Resultat dieses zweifachen Abstraktionsakts, die Kardinalzahl oder Mächtigkeit von M, bezeichnen wir mit
Da aus jedem einzelnen Elemente m, wenn man von seiner Beschaffenheit absieht, eine "Eins" wird, so ist die Kardinalzahl M selbst eine bestimmte aus lauter Einsen zusammengesetzte Menge, die als intellektuelles Abbild oder Projektion der gegebenen Menge M in unserm Geiste Existenz hat.
Zwei Mengen M und N nennen wir "äquivalent" und bezeichnen dies mit
wenn es möglich ist, dieselben gesetzmasig in eine derartige Beziehung zueinander zu setzen, das jedem Element der einen von ihnen ein und nur ein Element der andern entspricht.
Jedem Teil M1 von M entspricht alsdann ein bestimmter äquivalenter Teil N1 von N und umgekehrt.
Hat man ein solches Zuordnungsgesetz zweier äquivalenten Mengen, so last sich dasselbe (abgesehen von dem Falle, das jede von ihnen aus nur einem Elemente besteht) mannigfach modifizieren. Namentlich kann stets die Vorsorge getroffen werden, das einem besonderen Elemente m0 von M irgendein besonderes Element n0 von N entspricht. Denn entsprechen bei dem anfanglichen Gesetze die Elemente m0 und n0 noch nicht einander, vielmehr dem Elemente m0 von M das Element n, von N, dem Elemente n0 von N das Element m1 von M, so nehme man das modifizierte Gesetz, wonach m0 und n0 und ebenso m1 und n1 entsprechende Elemente beider Mengen werden, an den ubrigen Elementen jedoch das erste Gesetz erhalten bleibt. Hierdurch ist jener Zweck erreicht.
Jede Menge ist sich selbst äquivalent:
Sind zwei Mengen einer dritten äquivalent, so sind sie auch unter einander
äquivalent:
aus M 〜 P und N 〜 P folgt M 〜 N. | (6) |
Von fundamentaler Bedeutung ist es, das zwei Mengen M und N dann und nur dann dieselbe Kardinalzahl haben, wenn sie äquivalent sind:
aus M 〜 N folgt M = N | (7) |
und
aus M = M folgt M 〜 N. | (8) |
Die Äquivalenz von Mengen bildet also das notwendige und untrügliche Kriterium für die Gleichheit ihrer Kardinalzahlen.
In der Tat bleibt nach der obigen Definition der Mächtigkeit die Kardinalzahl M ungeändert, wenn an Stelle eines Elementes oder auch an Stelle mehrerer, selbst aller Elemente m von M je ein anderes Ding substituiert wird.
Ist nun M 〜 N, so liegt ein Zuordnungsgesetz zugrunde, durch welches M und N gegenseitig eindeutig aufeinander bezogen sind; dabei entspreche dem Elemente m von M das Element n von N. Wir können uns alsdann an Stelle jedes Elementes m von M das entsprechende Element n von N substituiert denken, und es verwandelt sich dabei M in N ohne Änderung der Kardinalzahl; es ist folglich
Die Umkehrung des Satzes ergibt sich aus der Bemerkung, daß zwischen den Elementen von M und den verschiedenen Einsen ihrer Kardinalzahl M ein gegenseitig eindeutiges Zuordnungsverhältnis besteht. Denn es wächst gewissermaßen, wie wir sahen, M so aus M heraus, daß dabei aus jedem Elemente m von M eine besondere Eins von M wird. Wir können daher sagen, daß
Ebenso ist N 〜 N. Ist also M = N, so folgt nach (6) M 〜 N.
Wir heben noch den aus dem Begriff der Aquivalenz unmittelbar folgenden Satz hervor:
Sind M, N, P,. . . Mengen, die keine gemeinsamen Elemente haben, M' N', P', ... ebensolche jenen entsprechende Mengen, und ist
M 〜 M', N 〜 N' P 〜 P',...,
so ist auch immer
( M, N, P, .... ) 〜 ( M', N', P', ... ).
§2.
Das "Größer" und "Kiemer" bei Mächtigkeiten.
Sind bei zwei Mengen M und N mit den Kardinalzahlen a = M und b = N die zwei Bedingungen erfüllt:
1) es gibt keinen Teil von M, der mit N äquivalent ist,
2) es gibt einen Teil N1 von N,
so daß N1 〜 M, so ist zunächst ersichtlich, daß dieselben erfüllt bleiben, wenn in ihnen M und N durch zwei denselben äquivalente Mengen M' und N' ersetzt werden;
sie drücken daher eine bestimmte Beziehung der Kardinalzahlen a und b zueinander aus.
Ferner ist die Aquivalenz von M und N, also die Gleichheit von a, und b ausgeschlossen; denn wäre M 〜 N, so hätte man, weil N1 〜 M, auch N1 〜 N und es müßte wegen M ^ N auch ein Teil M1 von M existieren, so daß M1 〜 M, also auch M1 〜 N wäre, was der Bedingung l) -widerspricht.
Drittens ist die Beziehung von a zu b eine solche, daß sie dieselbe Beziehung von b zu a unmöglich macht; denn wenn in 1) und 2) die Rollen von M und N vertauscht werden, so entstehen daraus zwei Bedingungen, die jenen kontradiktorisch entgegengesetzt sind.
Wir drücken die durch 1) und 2) charakterisierte Beziehung von a zu b so aus, daß wir sagen: a ist kleiner als b, oder auch: b ist größer als a, in Zeichen
Man beweist leicht, daß
wenn a < b, b < c, dann immer a < c. | (2) |
Ebenso folgt ohne weiteres aus jener Definition, daß, wenn P1 Teil einer Menge P ist, aus a < P1 immer auch a < P und aus P < b immer auch P1 < b sich ergibt.
Wir haben gesehen, daß von den drei Beziehungen
a = b, a < b, b < a
jede einzelne die beiden anderen ausschließt.
Dagegen versteht es sich keineswegs von selbst und dürfte an dieser Stelle unseres Gedankenganges kaum zu beweisen sein, daß bei irgend zwei Kardinalzahlen a und b eine von jenen drei Beziehungen notwendig realisiert sein müsse.
Erst später, wenn wir einen Uberblick über die aufsteigende Folge der transfiniten Kardinalzahlen und eine Einsicht in ihren Zusammenhang gewonnen haben werden, wird sich die Wahrheit des Satzes ergeben:
A. "Sind a und b zwei beliebige Kardinalzahlen, so ist entweder a = b oder a < b oder a > bb."
Aufs einfachste lassen sich aus diesem Satze die folgenden ableiten, von denen wir aber vorläufig keinerlei Gebrauch machen dürfen:
B. "Sind zwei Mengen M und N so beschaffen, daß M mit einem Teil N1 von N und N mit einem Teil M1 von M äquivalent ist, so sind auch M und N äquivalent" .
C. "Ist .Mi ein Teil einer Menge M, M2 ein Teil der Menge M1, und sind die Mengen M und M2 äquivalent, so ist auch M1 den Mengen M und M2 äquivalent".
D. "Ist bei zwei Mengen M und N die Bedingung erfüllt, daß N weder mit M selbst, noch mit einem Teile von M äquivalent ist, so gibt es einen Teil N1 von N, der mit M äquivalent ist."
E. "Sind zwei Mengen M und N nicht äquivalent, und gibt es einen Teil N1 von N, der mit M äquivalent ist, so ist kein Teil von M mit N äquivalent."
§3.
Die Addition und Multiplikation von Mächtigkeiten.
Die Vereinigung zweier Mengen M und N, die keine gemeinschaftlichen Elemente haben, wurde in § 1, (2) mit ( M, N ) bezeichnet. Wir nennen sie die "Vereinigungsmenge von M und N".
Sind M', N' zwei andere Mengen ohne gemeinschaftliche Elemente, und ist M 〜 M', N 〜 N', so sahen wir, daß auch
( M,N ) 〜 ( M',N' ).
Daraus folgt, daß die Kardinalzahl von ( M , N ) nur von den Kardinalzahlen M = a und N = b abhängt.
Dies führt zur Definition der Summe von a und b, indem wir setzen
a + b = ( M , N ) | (1) |
Da im Mächtigkeitsbegriff von der Ordnung der Elemente abstrahiert ist, so folgt ohne weiteres
und für je drei Kardinalzahlen a, b, c
a + (b + c) = (a + b) + c. | (3) |
Wir kommen zur Multiplikation.
Jedes Element m einer Menge M läßt sich mit jedem Elemente n einer ändern Menge N zu einem neuen Elemente ( m , n ) verbinden; für die Menge aller dieser Verbindungen ( m , n ) setzen wir die Bezeichnung ( M ・ N ) fest. Wir nennen sie die "Verbindungsmenge von M und N". Es ist also
( M ・ N ) = {( m , n )} | (4) |
Man überzeugt sich, daß auch die Mächtigkeit von ( M ・ N ) nur von den Mächtigkeiten M = a, N = b abhängt; denn ersetzt man die Mengen M und N durch die ihnen äquivalenten Mengen
M' = { m' } und N' = { n' }
und betrachtet man m, m' sowie n, n' als zugeordnete Elemente, so wird die Menge
M' ・ N' = {( m' , n' )}
dadurch in ein gegenseitig eindeutiges Zuordnungsverhältnis zu ( M ・ N ) gebracht, daß man ( m , n ) und ( m', n' ) als einander entsprechende Elemente ansieht; es ist also
( M' ・ N' ) 〜 ( M ・ N ). | (5) |
Wir definieren nun das Produkt a・b durch die Gleichung
Eine Menge mit der Kardinalzahl a・b lässt sich aus zwei Mengen M und N mit den Kardinalzahlen a und b auch nach folgender Regel herstellen: man gehe von der Menge N aus und ersetze in ihr jedes Element n durch eine Menge Mn 〜 M; faßt man die Elemente aller dieser [unter sich elementefremder] Mengen Mn zu einem Ganzen S zusammen, so sieht man leicht, daß
folglich
S = a・b.
Denn wird bei irgendeinem zugrunde liegenden Zuordnungsgesetze der beiden äquivalenten Mengen M und Mn das dem Elemente m von M entsprechende Element von Mn mit mn bezeichnet, so hat man
und es lassen sich daher die Mengen S und ( M ・ N ) dadurch gegenseitig eindeutig aufeinander beziehen, daß mn und ( m , n ) als entsprechende Elemente angesehen werden.
Aus unseren Definitionen folgen leicht die Sätze:
weil
( M ・ N )〜( N ・ M ),
( M ・( N ・ P ))〜(( M ・ N )・ P ),
( M ・( N ・ P ))〜(( M ・ N ), ( M ・ P )).
Addition und Multiplikation von Mächtigkeiten unterliegen also allgemein dem kommutativen, assoziativen und distributiven Gesetze.
§4.
Die Potenzierung von Mächtigkeiten.
Unter einer "Belegung der Menge N mit Elementen der M enge M" oder einfacher ausgedrückt, unter einer "Belegung von N mit M" verstehen wir ein Gesetz, durch welches mit jedem Elemente n von N je ein bestimmtes Element von M verbunden ist, wobei ein und dasselbe Element von M wiederholt zur Anwendung kommen kann. Das mit n verbundene Element von M ist gewissermaßen eine eindeutige Funktion von n und kann etwa mit ƒ(n) bezeichnet werden; sie heiße "Belegungsfunktion von n"; die entsprechende Belegung von N werde ƒ(N) genannt.
Zwei Belegungen ƒ1(N) und ƒ2(N) heißen dann und nur dann gleich, wenn für alle Elemente n von N die Gleichung erfüllt ist
so daß, wenn auch nur für ein einziges besonderes Element n = n0 diese Gleichung nicht besteht, ƒ1(N) und ƒ2(N) als verschiedene Belegungen von N charakterisiert sind.
Beispielsweise kann, wenn m0 ein besonderes Element von M ist, festgesetzt sein, daß für alle n
sei; dieses Gesetz konstituiert eine besondere Belegung von N mit M.
Eine andere Art von Belegungen ergibt sich, wenn m0 und m1 zwei verschiedene besondere Elemente von M sind, n0 ein besonderes Element von N ist, durch die Pestsetzung
für alle n , die von n0 verschieden sind.
Die Gesamtheit aller verschiedenen Belegungen von N mit M bildet eine bestimmte Menge mit den Elementen ƒ(N ); wir nennen sie die "Beleg ungsmenge von N mit M " und bezeichnen sie durch (N | M ). Es ist also
Ist M 〜 M' und N 〜 N' so findet man leicht, daß auch.
(N | M ) 〜 (N' | M' ). | (3) |
Die Kardinalzahl von (N |M ) hängt also nur von den Kardinalzahlen M = a und N = b ab; sie dient uns zur Definition der Potenz ab:
Für drei beliebige Mengen M , N und P beweist man leicht die Sätze:
((N | M )・(P | M )) 〜 ((N , P ) | M ), | (5) |
((P | M )・(P | N ) 〜 (P | (M ・ N )), | (6) |
(P | (N | M )) 〜 ((P ・N ) | M ), | (7) |
aus denen, wenn P = c gesetzt wird, auf grund von (4) und im Hinblick auf § 3 die für drei beliebige Kardinalzahlen a , b und c gültigen Sätze sich ergeben
Wie inhaltreich und weittragend diese einfachen auf die Mächtigkeiten ausgedehnten Formeln sind, erkennt man an folgendem Beispiel:
Bezeichnen wir die Mächtigkeit des Linearkontinuums X (d. h. des Inbegriffs X aller reellen Zahlen x , die ≧ 0 und ≦ 1 sind) mit o , so überzeugt man sich leicht, daß sie sich unter anderm durch die Formel
darstellen läßt, wo über die Bedeutung von À0 der § 6 Aufschluss gibt.
In der Tat ist 2À0 nach (4) nichts anderes als die Mächtigkeit aller Darstellungen
x = ƒ(1) / 2 + ƒ(2) / 22 + ・・・ + ƒ(ν) / 2ν+ ・・・ (wo ƒ(ν) = 0 oder 1)
| (12) |
der Zahlen x im Zweiersystem. Beachten wir hierbei, daß jede Zahl x nur einmal zur Darstellung kommt mit Ausnahme der Zahlen x = (2ν + 1) / 2ν < 1, die zweimal dargestellt werden, so haben wir, wenn wir die "abzählbare" Gesamtheit der letzteren mit {sν} bezeichnen, zunächst
Hebt man aus X irgendeine "abzählbare" Menge {tν} heraus und bezeichnet den Rest mit X1, so ist
X = ({tν}, X1 ) = ({t2ν-1}, {t2ν}, X1 ) ,
({sν}, X ) = ({s }, {tν}, X1 ) ,
{t2ν-1} 〜 {sν}, {t2ν} 〜 {tν}, X1 〜 X1 ,
| |
mithin
also (§ 1)
Aus (11) folgt durch Quadrieren nach (§ 6, (6))
o ・ o = 2À0 ・ 2À0 = 2 À0 + À0
= 2À0 = o
| |
und hieraus durch fortgesetzte Multiplikation mit o
wo ν irgendeine endliche Kardinalzahl ist.
Erhebt man beide Seiten von (11) zur Potenz À0, so erhält man
oÀ0 = (2À0)À0 = 2À0 ・ À0 .
| |
Da aber nach § 6, (8) À0 ・ À0 = À0 so lst
Die Formeln (13) und (14) haben aber keine andere Bedeutung als diese: "Das ν-dimensionale sowohl, wie das À0-dimensionale Kontinuum haben die Mächtigkeit des eindimensionalen Kontinuums." Es wird also der ganze Inhalt der Arbeit im 84ten Bande des Crelle'schen Journals, S. 242 mit diesen wenigen Strichen aus den Grundformeln des Rechnens mit Mächtigkeiten rein algebraisch abgeleitet.
§5.
Die endlichen Kardinalzahlen.
Es soll zunächst gezeigt werden, wie die dargelegten Prinzipien, auf welchen später die Lehre von den aktual unendlichen oder transfiniten Kardinalzahlen aufgebaut werden soll, auch die natürlichste, kürzeste und strengste Begründung der endlichen Zahlenlehre liefern.
Einem einzelnen Ding e0 , wenn wir es unter den Begriff einer Menge E0 = (e0) subsumieren, entspricht als Kardinalzahl das, was wir "Eins" nennen und mit l bezeichnen; wir haben
Man vereinige nun mit E0 ein anderes Ding e1, die Vereinigungsmenge heiße E1, so daß
E1 = (E0, e1 ) = (e0 , e1 ) .
| (2) |
In: Cantor, Georg : Gesammelete Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts (hrsg. Ernst Zermelo). Berlin Heidelberg New York 1980, S.282-351