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Über eine elementare Frage der Mannigfaltigkeitslehre




In dem Aufsätze, betitelt: Über eine Eigenschaft des Inbegriffs aller reellen algebraischen Zahlen (Journ. Math. Bd. 77, S. 258) , findet sich wohl zum ersten Male ein Beweis für den Satz, daß es unendliche Mannigfaltigkeiten gibt, die sich nicht gegenseitig eindeutig auf die Gesamtheit aller endlichen ganzen Zahlen 1, 2, 3,..., ν,... beziehen lassen, oder, wie ich mich auszudrücken pflege, die nicht die Mächtigkeit der Zahlenreihe 1, 2, 3,.. ., ν,... haben. Aus dem in БШ 2 Bewiesenen folgt nämlich ohne weiteres, daß beispielsweise die Gesamtheit aller reellen Zahlen eines beliebigen Intervalles (α...β) sich nicht in der Reihenform
Б@Б@
ω1, ω2, ..., ων, ...
darstellen läßt.
Es läßt sich aber von jenem Satze ein viel einfacherer Beweis liefern, der unabhängig von der Betrachtung der Irrationalzahlen ist.
Sind nämlich m und w irgend zwei einander ausschließende Charaktere, so betrachten wir einen Inbegriff M von Elementen

E = ( x1, x2, xν, ... ),

welche von unendlich vielen Koordinaten x1, x2, xν, ... abhängen, wo jede dieser Koordinaten entweder m oder w ist. M sei die Gesamtheit aller Elemente E.
Zu den Elementen von M gehören beispielsweise die folgenden drei:

EI = ( m, m, m, m,... ),
EII = ( w, w, w, w, ... ),
EIII = ( m, w, m, w, ... ).

Ich behaupte nun, daß eine solche Mannigfaltigkeit M nicht die Mächtigkeit der Reihe 1, 2,...,ν ,... hat.
Dies geht aus folgendem Satze hervor:
"Ist E1 ,E2,...,Eν,... irgendeine einfach unendliche Reihe von Elementen der Mannigfaltigkeit M, so gibt es stets ein Element E0 von M, welches mit keinem Eν übereinstimmt."
Zum Beweise sei
E1 = ( a1,1, a1,2, ..., a1,ν, ... )
E2 = ( a2,1, a2,2, ..., a2,ν, ... )

ееееееееееее
Eμ = ( aμ,1, aμ,2, ..., aμ,ν, ... )

ееееееееееее

Hier sind die aμ,ν in bestimmter Weise m oder w. Es werde nun eine Reihe b1, b2, bν, ... so definiert, daß bν auch nur gleich m oder w und von aμ,ν verschieden sei.
Ist also aμ,ν = m, so ist bν = w, und ist aμ,ν = w, so ist bν = m.
Betrachten wir alsdann das Element

E0 = ( b1, b2, b3, ... ),

von M, so sieht man ohne weiteres, daß die Gleichung

E0 = Eμ

für keinen positiven ganzzahligen Wert von μ erfüllt sein kann, da sonst für das betreffende μ und für alle ganzzahligen Werte von ν

bν = aμ,ν ,

also auch im besondem

bμ = aμ,μ ,

wäre, was durch die Definition von bν ausgeschlossen ist. Aus diesem Satze folgt unmittelbar, daß die Gesamtheit aller Elemente von M sich nicht in die Reihenform: E1, E2, ..., Eν, ... bringen läßt, da wir sonst vor dem Widerspruch stehen würden, daß ein Ding E0 sowohl Element von M, wie auch nicht Element von M wäre.
Dieser Beweis erscheint nicht nur wegen seiner großen Einfachheit, sondern namentlich auch aus dem Grunde bemerkenswert, weil das darin befolgte Prinzip sich ohne weiteres auf den allgemeinen Satz ausdehnen läßt, daß die Mächtigkeiten wohldefinierter Mannigfaltigkeiten kein Maximum haben oder, was dasselbe ist, daß jeder gegebenen Mannigfaltigkeit L eine andere M an die Seite gestellt werden kann, welche von stärkerer Mächtigkeit ist als L.
Sei beispielsweise L ein Linearkontinuum, etwa der Inbegriff aller reellen Zahlgrößen z, die БЖ 0 und БЕ 1 sind.
Man verstehe unter M den Inbegriff aller eindeutigen Funktionen ƒ(x), welche nur die beiden Werte 0 oder 1 annehmen, während x alle reellen Werte, die БЖ 0 und БЕ 1 sind, durchläuft.
Daß M keine kleinere Mächtigkeit hat als L, folgt daraus, daß sich Teilmengen von M angeben lassen, welche dieselbe Mächtigkeit haben wie L, z. B. die Teilmenge, welche aus allen Funktionen von x bestellt, die für einen einzigen Wert x0 von x den Wert 1, für alle ändern Werte von x den Wert 0 haben.
Es hat aber auch M nicht gleiche Mächtigkeit mit L, da sich sonst die Mannigfaltigkeit M in gegenseitig eindeutige Beziehung zu der Veränderlichen z bringen ließe, und es könnte M in der Form einer eindeutigen Funktion der beiden Veränderlichen x und z

φ( x, z )

gedacht werden, so daß durch jede Spezialisierung von z ein Element ƒ(x) = φ( x, z ) von M erhalten wird und auch umgekehrt jedes Element ƒ(x) von M aus φ(x, z) durch eine einzige bestimmte Spezialisierung von z hervorgeht. Dies führt aber zu einem Widerspruch. Denn versteht man unter g (x) diejenige eindeutige Funktion von x, welche nur die Werte 0 oder 1 annimmt und für jeden Wert von x von φ(x, x) verschieden ist, so ist einerseits g (x) ein Element von M, andererseits kann g (x) durch keine Spezialisierung z = z0 aus φ(x,z) hervorgehen, weil φ(z0, z0) von g (z0) verschieden ist.
Ist somit die Mächtigkeit von M weder kleiner noch gleich derjenigen von L, so folgt, daß sie größer ist als die Mächtigkeit von L. (Vgl. Crelles Journal Bd. 84, S. 242) .
Ich habe bereits in den "Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre" (Leipzig 1883; Math. Ann. Bd. 21) durch ganz andere Hilfsmittel gezeigt, daß die Mächtigkeiten kein Maximum haben; dort wurde sogar bewiesen, daß der Inbegriff aller Mächtigkeiten, wenn wir letztere ihrer Größe nach geordnet denken, eine "wohlgeordnete Menge" bildet, so daß es in der Natur zu jeder Mächtigkeit eine nächst größere gibt, aber auch auf jede ohne Ende steigende Menge von Mächtigkeiten eine nächst größere folgt.
Die "Mächtigkeiten" repräsentieren die einzige und notwendige Verallgemeinerung der endlichen "Kardinalzahlen", sie sind nichts anderes als die aktual-unendlich-großen Kardinalzahlen, und es kommt ihnen dieselbe Realität und Bestimmtheit zu wie jenen; nur daß die gesetzmäßigen Beziehungen unter ihnen, die auf sie bezügliche "Zahlentheorie" zum Teil eine andersartige ,ist als im Gebiete des Endlichen.
Die weitere Erschließung dieses Feldes ist Aufgabe der Zukunft.


Cantor, Georg
In: Gesammelete Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts (hrsg. Ernst Zermelo). Berlin Heidelberg New York 1980, S.278-281
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