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Interview Nierendorf-Kandinsky
1. Datum des ersten abstrakten Bildes?
1911, also vor 26 Jahren. Abstraktes Aquarell bereits 1910.
2. Wie kamen Sie auf den «abstrakten» Gedanken in der Malerei?
Schwer zu sagen. Schon in sehr jungen Jahren fühlte ich die unerhörte Ausdruckskraft der Farbe. Ich beneidete die Musiker, die Kunst machen können ohne etwas «Realistisches» zu «erzählen». Die Farbe schien nur aber ebenso ausdrucksvoll und stark zu sein, wie es der Klang ist. Mit etwa 20 Jahren wurde ich von einem wissenschaftlichen Institut der Moskauer Universität nach dem Gouvernement Wologda geschickt (Nord-Ost im europäischen Rußland) zu juristischen und ethnographischen Forschungen. Dort sah ich Bauernhäuser, die innen vollständig ausgemalt waren - ungegenständlich. Ornamentik, Möbelstücke, Geschirr, alles bemalt. Ich hatte den Eindruck, ich trete in die Malerei hinein, die nichts «erzählt». Nach ein paar Jahren sah ich eine große Impressionisten-Ausstellung in Moskau, die teils sehr bekämpft wurde, weil die Maler «den Gegenstand schlampig behandelten». Ich hatte aber den Eindruck, hier käme die Malerei selbst in Vordergrund, und fragte mich, ob man nicht noch viel weiter auf diesem Wege gehen könnte. Seitdem sah ich die russische Ikonenmalerei mit ändern Augen, das heißt ich «bekam Augen» für das Abstrakte in dieser Malerei. 1906 sah ich zum ersten Mal die früheren Bilder von Matisse, die auch sehr bekämpft wurden - aus demselben Grund, wie die Impressionisten in Moskau. Ich stellte mir sehr ermutigt wieder die Frage, ob man den «Gegenstand» nicht nur reduzieren, «verzeichnen» könne, sondern überhaupt ganz beseitigen. So ging ich über den «Expressionismus» zur abstrakten Malerei über - langsam, durch unendlich viele Versuche, Verzweiflung, Hoffnung, Entdeckungen.
Sie sehen, daß ich nie etwas mit dem Kubismus zu tun hatte. Als ich zum ersten Mal Photos nach kubistischen Picassos sah (1912), war mein erstes abstraktes Bild schon gemalt.
3. Es wird oft behauptet, die abstrakte Kunst hätte nichts mehr mit der Natur zu tun. Finden Sie das auch?
Nein! Und nochmals nein! Die abstrakte Malerei verläßt die «Haut» der Natur, aber nicht ihre Gesetze. Erlauben Sie mir das «große Wort», die kosmischen Gesetze. Die Kunst kann nur dann groß sein, wenn sie in direkter Verbindung mit kosmischen Gesetzen steht und sich ihnen unterordnet. Diese Gesetze fühlt man unbewußt, wenn man sich nicht äußerlich der Natur nähert, sondern - innerlich - man muß die Natur nicht nur sehen, sondern erleben können. Wie Sie sehen, hat das mit dem Benutzen des «Gegenstandes» nichts zu tun. Absolut gar nichts!
Ich habe darüber in den Cahiers d'Arf auf Bitte von M. Zervos geschrieben.
Wenn der Künstler äußere und innere Augen für die Natur hat, bedankt sie sich bei ihm durch «Inspiration».
4. Es wird ebenso nicht selten behauptet, daß der «abstrakte Maler» ausschließlich «köpf mäßig» arbeitet. Stimmt es?
Es kommt nicht selten vor, daß es stimmt. Aber. . . nicht seltener kommt es auch bei «gegenständlichen» und «realistischen» Malern vor. Der «Kopf» ist ein notwendiger und wichtiger «Körperteil» bei dem Menschen, aber nur in organischer Verbindung mit dem «Herz», oder «Gefühl» - nennen Sie es, wie Sie wollen. Ohne diese Verbindung ist der «Kopf» die Quelle aller Gefahren und aller Verderben. Auf allen Gebieten. Also auch in der Kunst. In der Kunst sogar noch mehr: es gab große Künstler «ohne Kopf». Aber ohne «Herz» nie. Zu großen Epochen und bei großen Künstlern gab es immer die organische Verbindung zwischen Kopf und Herz (Gefühl). Nur zu Zeiten der größten Verwirrungen, wie wir es heute haben, kann der armselige Gedanke entstehen, daß Kunst durch Kopf allein zu erreichen wäre. Es scheint mir aber, daß dieser armselige Gedanke bereits tot ist. Henri Rousseau dachte, daß seine besten Werke ihm von seiner «verstorbenen Frau» diktiert wurden. Mag sein! Jedenfalls kommt die Kunst ohne ein «inneres Diktat» nicht zur Welt. «Intuition»!
5. Welchen Widerhall fanden Sie bei Ihren ersten abstrakten Werken in der Offentlichkeit?
Ich stand damals vollkommen allein da, weil meine Malerei auf die leidenschaftlichste Weise abgelehnt wurde. Was ich an Beschimpfungen zu hören bekam, ist tatsächlich phantastisch. «Talentloser Schwindler» war der Lieblingsausdruck. Später hat mein Berliner Kunsthändler, Herwarth Waiden, einen Prozeß gegen einen deutschen Kritiker geführt, der mich den Gründer einer neuen Kunstrichtung mit Namen «Idiotismus» nannte. Aber auch noch heute gibt
es hie und da «Kriüker», die zu beweisen suchen, daß die abstrakte Malerei «nicht möglich ist». Sie wissen ja, daß diese Meinung nicht nur «Kritiker» teilen.
Meiner Meinung nach ist diese konsequente Bekämpfung der abstrakten Kunst, eine Bekämpfung, die über 25 Jahre dauert, der beste Beweis für die Notwendigkeit und große Kraft der abstrakten Kunst. Was glatt und schnell vor sich geht, ist immer eine Null.
6. Was denken Sie von amerikanischen Möglichkeiten?
Ich war noch nie in Amerika, aber alles, was ich von hier aus sehe und höre, ist oft erfreulich. Amerika ist ein junges Riesenland, das mich oft an Rußland erinnert - dieselbe Kompliziertheit, Mannigfaltigkeit, Liebe zum Lebendigen, Freien und zum Neuen... im guten Sinn.
Die Amerikaner haben die beneidenswerte Frische behalten, die hier bei uns viel zu selten vorkommt. Natürlich gibt es überall - in Amerika wie in Europa - «Modernisten», das heißt Menschen, die große Angst haben, «zurückzubleiben» und deshalb sich zu allem Neuen mit Begeisterung bekennen. Sie vergessen dabei, wieviel von solchen Neuigkeiten im Laufe der letzten 20 bis 30 Jahren ein «Leerlauf» war. Aber ohne «Entgleisungen» kommt man nicht weiter - vielleicht ein bittres, aber ewiges «Naturgesetz». Man sagt ja: «nur der irrt nicht, der nichts tut». Ich meine aber: der irrt am meisten.
Kandinsky, Wasily, 1937
In: Essays über Kunst und Kunstler (herausgegeben und kommentiert von Max Bill). Teufen 1955 S. 202-205