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Wissenschaftliche Weltauffassung - der Wiener Kreis
I. Der Wiener Kreis der Wissenschaftlichen Weltauffassung
II. Die Wissenschaftliche Weltauffassung
III. Problemgebiete
IV. Rückblick und Ausblick
Geleitwort
Anfang 1929 erhielt Moritz Schlick einen sehr verlockenden Ruf nach Bonn. Nach einigem Schwanken entschloß er sich, in Wien zu bleiben. Ihm und uns wurde bei dieser Gelegenheit zum erstenmal deutlich bewußt, daß es so etwas wie einen "Wiener Kreis" der wissenschaftlichen Weltauffassung gibt, der diese Denkweise in gemeinsamer Arbeit weiterentwickelt. Dieser Kreis hat keine feste Organisation; er besteht aus Menschen gleicher wissenschaftlicher Grundeinstellung; der einzelne bemüht sich um Eingliederung, jeder schiebt das Verbindende in den Vordergrund, keiner will durch Besonderheit den Zusammenhang stören. In vielem kann der eine den anderen vertreten, die Arbeit des einen kann durch den anderen weitergeführt werden.
Der Wiener Kreis ist bestrebt, mit Gleichgerichteten Fühlung zu nehmen und Einwirkung
auf Fernerstehende auszuüben. Die Mitarbeit im Verein Ernst Mach ist der Ausdruck
f¨r dieses Bemühen; Vorsitzender dieses Vereins ist Schlick, dem Vorstand gehören
mehrere Mitglieder des Schlickschen Kreises an.
Der Verein Ernst Mach veranstaltet gemeinsam mit der Gesellschaft für empirische Philosophie (Berlin) am 15. und 16. September 1929 in Prag eine Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften im Zusammenhang mit der gleichzeitig dort stattfindenden Tagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und der Deutschen Mathematikervereinigung. Neben speziellen Fragen soll dort auch Grundsätzliches erörtert werden. Es wurde beschlossen, anläßlich dieser Tagung die vorliegende Schrift ¨ber den Wiener Kreis der wissenschaftlichen Weltauffassung zu veröffentlichen. Die
Schrift soll Moritz Schlick im Oktober 1929 bei seiner Rückkehr von der Gastprofessur an der Stanford-Universität, Kalifornien, ¨berreicht werden als Zeichen des Dankes und der Freude ¨ber sein Bleiben in Wien. Der zweite Teil des Heftes enthält eine Bibliographie, die in Zusammenarbeit mit den Beteiligten aufgestellt worden ist. Sie
soll einen Überblick über die Problemgebiete geben, auf denen die dem Wiener Kreise Angehörenden oder Nahestehenden arbeiten.
Wien, im August 1929.
Für den Verein Ernst Mach:
Hans Hahn
Otto Neurath
Rudolf Carnap
1. Vorgeschichte
Daß metaphysisches und theologisierendes Denken nicht nur im Leben, sondern auch in der Wissenschaft heute wieder zunehme, wird von vielen behauptet. Handelt es sich hierbei um eine allgemeine Erscheinung oder nur um eine auf bestimmte Kreise beschränkte Wandlung? Die Behauptung selbst wird leicht bestätigt durch einen Blick auf die Themen der Vorlesungen an den Universitäten und auf die Titel der philosophischen Veröffentlichungen. Aber auch der entgegengesetzte Geist der Aufklärung und der antimetaphysischen Tatsachenforschung erstarkt gegenwärtig, indem er sich seines Daseins und seiner Aufgabe bewußt wird. In manchen Kreisen ist die auf Erfahrung fußende, der Spekulation abholde Denkweise lebendiger denn je, gekräftigt gerade durch den neu sich erhebenden Widerstand.
In der Forschungsarbeit aller Zweige der Erfahrungswissenschaft ist dieser Geist wissenschaftlicher Weltauffassung lebendig. Systematisch durchdacht und grundsätzlich vertreten wird er aber nur von wenigen führenden Denkern, und diese sind nur selten in der Lage, einen Kreis gleichgesinnter Mitarbeiter um sich zu sammeln. Wir finden antimetaphysische Bestrebungen vor allem in England, wo die Tradition der großen Empiristen nocht fortlebt; die Untersuchungen von Russell und Whitehead zur Logik und Wirklichkeitsanalyse haben internationale Bedeutung gewonnen. In den USA. nehmen diese Bestrebungen die verschiedenartigsten Formen an; in gewissem Sinne wäre auch James hieher zu rechnen. Das neue Rußland sucht durchaus nach wissenschaftlicher Weltauffassung, wenn auch zum Teil in Anlehnung an ältere materialistische Strömungen. Im kontinentalen Europa ist eine Konzentration produktiver Arbeit in der Richtung wissenschaftlicher Weltauffassung insbesondere in Berlin (Reichenbach, Petzold, Grelling, Dubislav und andere) und Wien zu finden.
Daß Wien ein besonders geeigneter Boden für diese Entwicklung war, ist geschichtlich verständlich. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war lange der Liberalismus die in Wien herrschende politische Richtung. Seine Gedankenwelt entstammt der Aufklärung, dem Empirismus, Utilitarismus und der Freihandelsbewegung Englands. In der Wiener liberalen Bewegung standen Gelehrte von Weltruf an führender Stelle. Hier wurde antimetaphysischer Geist gepflegt; es sei erinnert an Theodor Gomperz, der Mills Werke übersetzte (1869-80), Sueß, Jodl und andere.
Diesem Geist der Aufklärung ist es zu danken, daß Wien in der wissenschaftlich orientierten Volksbildung führend gewesen ist. Damals wurde unter Mitwirkung von Victor Adler und Friedrich Jodl der Volksbildungsverein gegründet und weitergeführt; die »volkstümlichen Universitätskurse« und das »Volksheim« wurden eingerichtet durch Ludo Hartmann, den bekannten Historiker, dessen antimetaphysische Einstellung und materialistische Geschichtsauffassung in all seinem Wirken zum Ausdruck kam. Aus dem gleichen Geist stammt auch die Bewegung der »Freien Schule«, die die Vorläuferin der heutigen Schulreform gewesen ist.
In dieser liberalen Atmosphäre lebte Ernst Mach (geb. 1838), der als Student und (1861-64) als Privatdozent in Wien war. Er kam erst im Alter nach Wien zurück, als für ihn eine eigene Professur für Philosophie der induktiven Wissenschaften geschaffen wurde (1895). Er war besonders darum bemüht, die empirische Wissenschaft, in erster Linie die Physik, von metaphysischen Gedanken zu reinigen. Es sei erinnert an seine Kritik des absoluten Raumes, durch die er ein Vorläufer Einsteins wurde, an seinen Kampf gegen die Metaphysik des Dinges an sich und des Substanzbegriffs sowie an seine Untersuchungen über den Aufbau der wissenschaftlichen Begriffe aus letzten Elementen, den Sinnesdaten. In einigen Punkten hat die wissenschaftliche Entwicklung ihm nicht recht gegeben, zum Beispiel in seiner Stellungnahme gegen die Atomistik und in seiner Erwartung einer Förderung der Physik durch die Sinnesphysiologie. Die wesentlichen Punkte seiner Auffassung aber sind in der Weiterentwicklung positiv verwertet worden. Auf der Lehrkanzel von Mach wirkte dann (1902-06) Ludwig Boltzmann, der ausgesprochen empiristische Ideen vertrat.
Das Wirken der Physiker Mach und Boltzmann auf philosophischer Lehrkanzel läßt es begreiflich erscheinen, daß für die erkenntnistheoretischen und logischen Probleme, die mit den Grundlagen der Physik zusammenhängen, lebhaftes Interesse herrschte. Man wurde durch diese Grundlagenprobleme auch auf die Bemühungen um eine Erneuerung der Logik geführt. Diesen Bestrebungen war in Wien auch von ganz anderer Seite her, durch Franz Brentano, der Boden geebnet worden (1874 bis 1880 Professor der Philosophie an der theologischen Fakultät, später Dozent an der philosophischen Fakultät). Brentano hatte als katholischer Geistlicher Verständnis für die Scholastik; er knüpfte unmittelbar an die scholastische Logik und an die Leibnizschen Bemühungen um eine Reform der Logik an, während er Kant und die idealistischen Systemphilosophen beiseite ließ. Das Verständnis Brentanos und seiner Schüler für Männer wie Bolzano (Wissenschaftslehre, 1857) und andere, die sich um eine strenge Neubegründung der Logik bemühten, ist immer wieder deutlich zutage getreten. Insbesondere hat Alois Höfler (1853 bis 1922) vor einem Forum, in dem durch den Einfluß von Mach und Boltzmann die Anhänger der wissenschaftlichen Weltauffassung stark vertreten waren, diese Seite der Brentanoschen Philosophie in den Vordergrund gerückt. In der Philosophischen Gesellschaft an der Universität Wien fanden unter Leitung von Höfler zahlreiche Diskussionen über Grundlagenfragen der Physik und verwandte erkenntnistheoretische und logische Probleme statt. Von der Philosophischen Gesellschaft wurden die »Vorreden und Einleitungen zu klassischen Werken der Mechanik« herausgegeben (1899) sowie einzelne Schriften von Bolzano (durch Höfler und Hahn, 1914 und 1921). In dem Wiener Brentano-Kreis lebte (1870-82) der junge Alexius von Meinong (später Professor in Graz), dessen Gegenstandstheorie (1907) immerhin eine gewisse Verwandtschaft mit den modernen Begriffstheorien aufweist und dessen Schüler Ernst Mally (Graz) auch auf dem Gebiet der Logistik arbeitete. Auch die Jugendschriften von Hans Pichler (1909) entstammen diesen Gedankenkreisen.
Etwa gleichzeitig mit Mach wirkte in Wien sein Altersgenosse und Freund Josef Popper-Lynkeus. Neben seinen physikalischtechnischen Leistungen seien hier seine großzügigen, wenn auch unsystematischen philosophischen Betrachtungen erwähnt (1899) sowie sein rationalistischer Wirtschaftsplan (allgemeine Nährpflicht, 1878). Er diente bewußt dem Geist der Aurklärung, wie auch durch sein Buch über Voltaire bezeugt wird. Die Ablehnung der Metaphysik war ihm mit manchen anderen Wiener Soziologen, zum Beispiel mit Rudolf Goldscheid, gemeinsam. Bemerkenswert ist, daß auch auf dem Gebiete der Nationalökonomie in Wien durch die Schule der Grenznutzenlehre eine streng wissenschaftliche Methode gepflegt wurde (Carl Menger, 1871); diese Methode faßte in England, Frankreich, Skandinavien Fuß, nicht aber in Deutschland. Auch die marxistische Theorie wurde in Wien mit besonderem Nachdruck gepflegt und ausgebaut (Otto Bauer, Rudolf Hilferding, Max Adleru. a.).
Diese Einwirkungen von verschiedenen Seiten her hatten in Wien besonders seit der Jahrhundertwende zur Folge, daß eine größere Zahl von Menschen allgemeinere Probleme in engem Anschluß an die Erfahrungswissenschaft häufig und mit Eifer diskutierten. Es ging vor allem um erkenntnistheoretische und methodologische Probleme der Physik, zum Beispiel Poincares Konventionalismus, Duhems Auffassung von Ziel und Struktur der physikalischen Theorien (sein Übersetzer war der Wiener Friedrich Adler, ein Anhänger Machs, damals Privatdozent der Physik in Zürich); ferner auch um Grundlagenfragen der Mathematik, Probleme der Axiomatik, Logistik und ähnliches. Von wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Linien waren es besonders die folgenden, die sich hier vereinigten; sie seien gekennzeichnet durch diejenigen ihrer Vertreter, deren Werke hier hauptsächlich gelesen und erörtert wurden.
- Positivismus und Empirismus: Hume, Aufklärung, Comte, Mill, Rich. Avenarius, Mach.
- Grundlagen, Ziele und Methoden der empiristischen Wissenschaft (Hypothesen in Physik, Geometrie usw.): Helmholtz, Riemann, Mach, Poincare, Enriques, Duhem, Boltzmann, Einstein.
- Logistik und ihre Anwendung auf die Wirklichkeit: Leibniz, Peano, Frege, Schröder, Russell, Whitehead, Wittgenstein.
- Axiomatik: Pasch, Peano, Vailati, Pieri, Hilbert.
- Eudämonismus und positivistische Soziologie: Epikur, Hume, Bentham; Mill, Comte, Feuerbach, Marx, Spencer, Müller-Lyer, Popper-Lynkeus, Carl Menger (Vater).
2. Der Kreis um Schlick
Im Jahre 1922 wurde Moritz Schlick von Kiel nach Wien berufen. Seine Wirksamkeit fügte sich gut ein in die geschichtliche Entwicklung der Wiener wissenschaftlichen Atmosphäre. Er, selbst ursprünglich Physiker, erweckte die Tradition zu neuem Leben, die von Mach und Boltzmann begonnen und von dem antimetaphysisch gerichteten Adolf Stöhr in gewissem Sinne weitergeführt worden war. (In Wien nacheinander: Mach, Boltzmann, Stöhr, Schlick; in Prag: Mach, Einstein, Ph. Frank.)
Um Schlick sammelte sich im Laufe der Jahre ein Kreis, der die verschiedenen Bestrebungen in der Richtung wissenschaftlicher Weltauffassung vereinigte. Durch diese Konzentration ergab sich eine fruchtbare gegenseitige Anregung. Die Mitglieder des Kreises sind, soweit Veröffentlichungen von ihnen vorliegen, in der Bibliographie [hier nicht abgedruckt; d. Hg.] genannt. Keiner von ihnen ist ein sogenannter »reiner« Philosoph, sondern alle haben auf einem wissenschaftlichen Einzelgebiet gearbeitet. Und zwar kommen sie von verschiedenen Wissenschaftszweigen und ursprünglich von verschiedenen philosophischen Einstellungen her. Im Laufe der Jahre aber trat eine zunehmende Einheitlichkeit zutage; auch dies eine Wirkung der spezifisch wissenschaftlichen Einstellung: »was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen« (Wittgenstein); bei Meinungsverschiedenheiten ist schließlich eine Einigung möglich, daher auch gefordert. Es hat sich immer deutlicher gezeigt, daß die nicht nur metaphysikfreie, sondern antimetaphysische Einstellung das gemeinsame Ziel aller bedeutet.
Auch die Einstellungen zu den Lebensfragen lassen, obwohl diese Fragen unter den im Kreis erörterten Themen nicht im Vordergrund stehen, eine merkwürdige Übereinstimmung erkennen. Diese Einstellungen haben eben eine engere Verwandtschaft mit der wissenschaftlichen Weltauffassung, als es auf den ersten Blick, vom rein theoretischen Gesichtspunkt aus scheinen möchte. So zeigen zum Beispiel die Bestrebungen zur Neugestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, zur Vereinigung der Menschheit, zur Erneuerung der Schule und der Erziehung einen inneren Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Weltauffassung; es zeigt sich, daß diese Bestrebungen von den Mitgliedern des Kreises bejaht, mit Sympathie betrachtet, von einigen auch tatkräftig gefördert werden.
Der Wiener Kreis begnügt sich nicht damit, als geschlossener Zirkel Kollektivarbeit zu leisten. Er bemüht sich auch, mit den lebendigen Bewegungen der Gegenwart Fühlung zu nehmen, soweit sie wissenschaftlicher Weltauffassung freundlich gegenüberstehen und sich von Metaphysik und Theologie abkehren. Der Verein Ernst Mach ist heute die Stelle, von der aus der Kreis zu einer weiteren Öffentlichkeit spricht. Dieser Verein will, wie es in seinem Programm heißt, »wissenschaftliche Weltauffassung fördern und verbreiten. Er wird Vorträge und Veröffentlichungen über den augenblicklichen Stand wissenschaftlicher Weltauffassung veranlassen, damit die Bedeutung exakter Forschung für Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften gezeigt wird. So sollen gedankliche Werkzeuge des modernen Empirismus geformt werden, deren auch die öffentliche und private Lebensgestaltung bedarf.« Durch die Wahl seines Namens will der Verein seine Grundrichtung kennzeichnen: metaphysikfreie Wissenschaft. Damit erklärt der Verein aber nicht etwa ein programmatisches Einverständnis mit den einzelnen Lehren von Mach. Der Wiener Kreis glaubt durch seine Mitarbeit im Verein Ernst Mach eine Forderung des Tages zu erfüllen: es gilt, Denkwerkzeuge für den Alltag zu formen, für den Alltag der Gelehrten, aber auch für den Alltag aller, die an der bewußten Lebensgestaltung irgendwie mitarbeiten. Die Lebensintensität, die in den Bemühungen um eine rationale Umgestaltung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sichtbar ist, durchströmt auch die Bewegung der wissenschaftlichen Weltauffassung. Es entspricht der gegenwärtigen Situation in Wien, daß bei der Gründung des Vereines Ernst Mach im November 1928 als Vorsitzender Schlick gewählt wurde, um den sich die gemeinschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Weltauffassung am stärksten konzentriert hatte.
Schlick und Ph. Frank geben gemeinsam die Sammlung »Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung« heraus, in der bisher vorwiegend Mitglieder des Wiener Kreises vertreten sind.
Die wissenschaftliche Weltauffassung ist nicht so sehr durch eigene Thesen charakterisiert als vielmehr durch die grundsätzliche Einstellung, die Gesichtspunkte, die Forschungsrichtung. Als Ziel schwebt die Einheitswissenschaft vor. Das Bestreben geht dahin, die Leistungen der einzelnen Forscher auf den verschiedenen Wissenschaftsgebieten in Verbindung und Einklang miteinander zu bringen. Aus dieser Zielsetzung ergibt sich die Betonung der Kollektivarbeit; hieraus auch die Hervorhebung des intersubjektiv Erfaßbaren; hieraus entspringt das Suchen nach einem neutralen Formelsystem, einer von den Schlacken der historischen Sprachen befreiten Symbolik; hieraus auch das Suchen nach einem Gesamtsystem der Begriffe. Sauberkeit und Klarheit werden angestrebt, dunkle Fernen und unergründliche Tiefen abgelehnt. In der Wissenschaft gibt es keine »Tiefen«; überall ist Oberfläche: alles Erlebte bildet ein kompliziertes, nicht immer überschaubares, oft nur im einzelnen faßbares Netz. Alles ist dem Menschen zugänglich; und der Mensch ist das Maß aller Dinge. Hier zeigt sich Verwandtschaft mit den Sophisten, nicht mit den Platonikern; mit den Epikureern, nicht mit den Pythagoreern; mit allen, die irdisches Wesen und Diesseitigkeit vertreten. Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt keine unlösbaren Rätsel. Die Klärung der traditionellen philosophischen Probleme führt dazu, daß sie teils als Scheinprobleme entlarvt, teils in empirische Probleme umgewandelt und damit dem Urteil der Erfahrungswissenschaft unterstellt werden. In dieser Klärung von Problemen und Aussagen besteht die Aufgabe der philosophischen Arbeit, nicht aber in der Aufstellung eigener »philosophischer« Aussagen. Die Methode dieser Klärung ist die der logischen Analyse; von ihr sagt Russell: sie ist »in Anlehnung an die kritischen Untersuchungen der Mathematiker langsam entstanden. Meines Erachtens liegt hier ein ähnlicher Fortschritt vor, wie er durch Galilei in der Physik hervorgerufen wurde: beweisbare Einzelergebnisse treten an die Stelle unbeweisbarer, auf das Ganze gehender Behauptungen, für die man sich nur auf die Einbildungskraft berufen kann.«
Diese Methode der logischen Analyse ist es, die den neuen Empirismus und Positivismus wesentlich von dem früheren unterscheidet, der mehr biologisch-psychologisch orientiert war. Wenn jemand behauptet: »es gibt einen Gott«, »der Urgrund der Welt ist das Unbewußte«, »es gibt eine Entelechie als leitendes Prinzip im Lebewesen«, so sagen wir ihm nicht: »was du sagst, ist falsch«; sondern wir fragen ihn: »was meinst du mit deinen Aussagen?« Und dann zeigt es sich, daß es eine scharfe Grenze gibt zwischen zwei Arten von Aussagen. Zu der einen gehören die Aussagen, wie sie in der empirischen Wissenschaft gemacht werden; ihr Sinn läßt sich feststellen durch logische Analyse, genauer: durch Rückführung auf einfachste Aussagen über empirisch Gegebenes. Die anderen Aussagen, zu denen die vorhin genannten gehören, erweisen sich als völlig bedeutungsleer, wenn man sie so nimmt, wie der Metaphysiker sie meint. Man kann sie freilich häufig in empirische Aussagen umdeuten; dann verlieren sie aber den Gefühlsgehalt, der dem Metaphysiker meist gerade wesentlich ist. Der Metaphysiker und der Theologe glauben, sich selbst mißverstehend, mit ihren Sätzen etwas auszusagen, einen Sachverhalt darzustellen. Die Analyse zeigt jedoch, daß diese Sätze nichts besagen, sondern nur Ausdruck etwa eines Lebensgefühls sind. Ein solches zum Ausdruck zu bringen kann sicherlich eine bedeutsame Aufgabe im Leben sein. Aber das adäquate Ausdrucksmittel hierfür ist die Kunst, zum Beispiel Lyrik oder Musik. Wird statt dessen das sprachliche Gewand einer Theorie gewählt, so liegt darin eine Gefahr: es wird ein theoretischer Gehalt vorgetäuscht, wo keiner besteht. Will ein Metaphysiker oder Theologe die übliche Einkleidung in Sprache beibehalten, so muß er sich selbst darüber klar sein und deutlich erkennen lassen, daß er nicht Darstellung, sondern Ausdruck gibt, nicht Theorie, Mitteilung einer Erkenntnis, sondern Dichtung oder Mythus. Wenn ein Mystiker behauptet, Erlebnisse zu haben, die über oder jenseits alle Begriffe liegen, so kann man ihm das nicht bestreiten. Aber er kann darüber nicht sprechen; denn sprechen bedeutet einfangen in Begriffe, zurückführen auf wissenschaftlich eingliederbare Tatbestände.
Von der wissenschaftlichen Weltauffassung wird die metaphysische Philosophie abgelehnt. Wie sind aber die Irrwege der Metaphysik zu erklären? Diese Frage kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus gestellt werden: in psychologischer, in soziologischer und in logischer Hinsicht. Die Untersuchungen in psychologischer Richtung befinden sich noch im Anfangsstadium; Ansätze zu tiefergreifender Erklärung liegen vielleicht in Untersuchungen der Freudschen Psychoanalyse vor. Ebenso steht es mit soziologischen Untersuchungen; erwähnt sei die Theorie vom »ideologischen Überbau«. Hier ist noch offenes Feld für lohnende weitere Forschung.
Weiter gediehen ist die Klarlegung des logischen Ursprungs der metaphysischen Irrwege, besonders durch die Arbeiten von Russell und Wittgenstein. In den metaphysischen Theorien und schon in den Fragestellungen stecken zwei logische Grundfehler: eine zu enge Bindung an die Form der traditionellen Sprachen und eine Unklarheit über die logische Leistung des Denkens. Die gewöhnliche Sprache verwendet zum Beispiel dieselbe Wertform, das Substantiv, sowohl für Dinge (»Apfel«) wie für Eigenschaften (»Härte«), Beziehungen (»Freundschaft«), Vorgänge (»Schlaf«); dadurch verleitet sie zu einer dinghaften Auffassung funktionaler Begriffe (Hypostasierung, Substantialisierung). Es lassen sich zahlreiche ähnliche Beispiele von Irreführungen durch die Sprache angeben, die für die Philosophie ebenso verhängnisvoll geworden sind.
Der zweite Grundfehler der Metaphysik besteht in der Auffassung, das Denken könne entweder aus sich heraus, ohne Benutzung irgendwelchen Erfahrungsmaterials zu Erkenntnissen führen oder es könne wenigstens von gegebenen Sachverhalten aus durch Schließen zu neuen Inhalten gelangen. Die logische Untersuchung führt aber zu dem Ergebnis, daß alles Denken, alles Schließen in nichts anderem besteht als in einem Übergang von Sätzen zu anderen Sätzen, die nichts enthalten, was nicht schon in jenen steckte (tautologische Umformung). Es ist daher nicht möglich, eine Metaphysik aus »reinem Denken« zu entwickeln.
In solcher Weise wird durch die logische Analyse nicht nur die Metaphysik im eigentlichen, klassischen Sinne des Wortes überwunden, insbesondere die scholastische Metaphysik und die der Systeme des deutschen Idealismus, sondern auch die versteckte Metaphysik des Kantischen und des modernen Apriorismus. Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt keine unbedingt gültige Erkenntnis aus reiner Vernunft, keine »synthetischen Urteile a priori«, wie sie der Kantischen Erkenntnistheorie und erst recht aller vor- und nachkantischen Ontologie und Metaphysik zugrunde liegen. Die Urteile der Arithmetik, der Geometrie, gewisse Grundsätze der Physik, wie sie von Kant als Beispiele apriorischer Erkenntnis genommen werden, kommen nachher zur Erörterung. Gerade in der Ablehnung der Möglichkeit synthetischer Erkenntnis a priori besteht die Grundthese des modernen Empirismus. Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt nur Erfahrungssätze über Gegenstände aller Art und die analytischen Sätze der Logik und Mathematik.
In der Ablehnung der offenen Metaphysik und der versteckten des Apriorismus sind alle Anhänger wissenschaftlicher Weltauffassung einig. Der Wiener Kreis aber vertritt darüber hinaus die Auffassung, daß auch die Aussagen des (kritischen) Realismus und Idealismus über Realität oder Nichtrealität der Außenwelt und des Fremdpsychischen metaphysischen Charakters sind, da sie denselben Einwänden unterliegen wie die Aussagen der alten Metaphysik: sie sind sinnlos, weil nicht verifizierbar, nicht sachhaltig. Etwas ist »wirklich« dadurch, daß es eingeordnet wird dem Gesamtgebäude der Erfahrung.
Die von den Metaphysikern als Erkenntnisquelle besonders betonte Intuition wird von der wissenschaftlichen Weltauffassung nicht etwa überhaupt abgelehnt. Wohl aber wird eine nachträgliche rationale Rechtfertigung jeder intuitiven Erkenntnis Schritt für Schritt angestrebt und gefordert. Dem Suchenden sind alle Mittel erlaubt; das Gefundene aber muß der Nachprüfung standhalten. Abgelehnt wird die Auffassung, die in der Intuition eine höherwertige, tieferdringende Erkenntnisart sieht, die über die sinnlichen Erfahrungsinhalte hinausführen könne und nicht durch die engen Fesseln begrifflichen Denkens gebunden werden dürfe.
Wir haben die wissenschaftliche Weltauffassung im wesentlichen durch zwei Bestimmungen charakterisiert. Erstens ist sie empiristisch und positivistisch: es gibt nur Erfahrungserkenntnis, die auf dem unmittelbar Gegebenen beruht. Hiermit ist die Grenze für den Inhalt legitimer Wissenschaft gezogen. Zweitens ist die wissenschaftliche Weltauffassung gekennzeichnet durch die Anwendung einer bestimmten Methode, nämlich der der logischen Analyse. Das Bestreben der wissenschaftlichen Arbeit geht dahin, das Ziel, die Einheitswissenschaft, durch Anwendung dieser logischen Analyse auf das empirische Material zu erreichen. Da der Sinn jeder Aussage der Wissenschaft sich angeben lassen muß durch Zurückführung auf eine Aussage über das Gegebene, so muß auch der Sinn eines jeden Begriffs, zu welchem Wissenschaftszweige er immer gehören mag, sich angeben lassen durch eine schrittweise Rückführung auf andere Begriffe, bis hinab zu den Begriffen niederster Stufe, die sich auf das Gegebene selbst beziehen. Wäre eine solche Analyse für alle Begriffe durchgeführt, so wären sie damit in ein Rückführungssystem, »Konstitutionssystem«, eingeordnet. Die auf das Ziel eines solchen Konstitutionssystems gerichteten Untersuchungen, die »Konstitutionstheorie«, bilden somit den Rahmen, in dem die logische Analyse von der wissenschaftlichen Weltauffassung angewendet wird. Die Durchführung solcher Untersuchungen zeigt sehr bald, daß die traditionelle, aristotelisch-scholastische Logik für diesen Zweck völlig unzureichend ist. Erst in der modernen symbolischen Logik {»Logistik«) gelingt es, die erforderliche Schärfe der Begriffsdefinitionen und Aussagen zu gewinnen und den intuitiven Schlußprozeß des gewöhnlichen Denkens zu formalisieren, das heißt in eine strenge, durch den Zeichenmechanismus automatisch kontrollierte Form zu bringen. Die Untersuchungen der Konstitutionstheorie zeigen, daß zu den niedersten Schichten des Konstitutionssystems die Begriffe eigenpsychischer Erlebnisse und Qualitäten gehören; darüber sind die physischen Gegenstände gelagert; aus diesen werden die fremdpsychischen und als letzte die Gegenstände der Sozialwissenschaften konstituiert. Die Einordnung der Begriffe der verschiedenen Wissenschaftszweige in das Konstitutionssystem ist in großen Zügen heute schon erkennbar, für die genauere Durchführung bleibt noch viel zu tun. Mit dem Nachweis der Möglichkeit und der Aufweisung der Form des Gesamtsystems der Begriffe wird zugleich der Bezug aller Aussagen auf das Gegebene und damit die Aufbauform der Einheitswissenschaft erkennbar.
In die wissenschaftliche Beschreibung kann nur die Struktur (Ordnungsform) der Objekte eingehen, nicht ihr »Wesen«. Das die Menschen in der Sprache Verbindende sind die Strukturformeln; in ihnen stellt sich der Inhalt der gemeinsamen Erkenntnis der Menschen dar. Die subjektiv erlebten Qualitäten - die Röte, die Lust - sind als solche eben nur Erlebnisse, nicht Erkenntnisse; in die physikalische Optik geht nur das ein, was auch dem Blinden grundsätzlich verständlich ist.
1. Grundlagen der Arithmetik
In den Arbeiten und Diskussionen des Wiener Kreises wird eine Menge verschiedener Probleme behandelt, die von verschiedenen Zweigen der Wissenschaft herstammen. Das Bestreben geht dahin, die verschiedenen Problemrichtungen zu systematischer Vereinigung zu bringen, um dadurch die Problemsituation zu klären.
Die Grundlagenprobleme der Arithmetik sind dadurch von besonderer geschichtlicher Bedeutung für die Entwicklung der wissenschaftlichen Weltauffassung geworden, daß sie es gewesen sind, die den Anstoß zur Entwicklung einer neuen Logik gegeben haben. Nachdem die Mathematik im 18. und 19. Jahrhundert eine außerordentlich fruchtbare Entwicklung genommen hatte, bei der man mehr auf den Reichtum an neuen Ergebnissen als auf subtile Nachprüfung der begrifflichen Fundamente geachtet hatte, erwies sich schließlich diese Nachprüfung als unumgänglich, wenn nicht die Mathematik die stets gerühmte Sicherheit ihres Gebäudes verlieren sollte. Diese Nachprüfung wurde noch dringlicher, als gewisse Widersprüche, die »Paradoxien der Mengenlehre«, auftraten. Man mußte bald erkennen, daß es sich nicht etwa nur um Schwierigkeiten in einem Teilgebiet der Mathematik handelte, sondern um allgemeinlogische Widersprüche, »Antinomien«, die auf wesentliche Fehler in den Grundlagen der traditionellen Logik hinwiesen. Die Aufgabe der Ausscheidung dieser Widersprüche gab einen besonders starken Anstoß zur Weiterentwicklung der Logik. So trafen sich hier die Bemühungen um eine Klärung des Zahlbegriffes mit denen um eine interne Reform der Logik. Seit Leibniz und Lambert war immer wieder der Gedanke lebendig gewesen, die Wirklichkeit durch erhöhte Schärfe der Begriffe und der Schlußverfahren zu meistern und diese Schärfe durch eine der mathematischen nachgebildete Symbolik zu erreichen. Nach Boole, Venn und anderen haben besonders Frege (1884), Schröder (1890) und Peano (1895) an dieser Aufgabe gearbeitet. Auf Grund dieser Vorarbeiten konnten Whitebead und Russell (1910) ein zusammenhängendes System der Logik in symbolischer Form (»Logistik«) aufstellen, das nicht nur die Widersprüche der alten Logik vermied, sondern diese auch an Reichtum und praktischer Verwendbarkeit weit übertraf. Sie leiteten aus diesem logischen System die Begriffe der Arithmetik und Analysis ab, um dadurch der Mathematik ein sicheres Fundament in der Logik zu geben.
Bei diesem Versuch zur Überwindung der Grundlagenkrise der Arithmetik (und Mengenlehre) blieben jedoch gewisse Schwierigkeiten bestehen, die bis heute noch keine endgültig befriedigende Lösung gefunden haben. Gegenwärtig stehen auf diesem Gebiet drei verschiedene Richtungen einander gegenüber; neben dem »Logizismus« von Russell und Whitehead steht der »Formalismus« von Hilbert, der die Arithmetik als ein Formelspiel mit bestimmten Regeln auffaßt, und der »Intuitionismus« von Brouwer, nach dem die arithmetischen Erkenntnisse auf einer nicht weiter zurückführbaren Intuition der Zwei-Einheit beruhen. Die Auseinandersetzungen zwischen diesen drei Richtungen werden im Wiener Kreise mit größtem Interesse verfolgt. Wohin die Entscheidung schließlich führen wird, ist noch nicht abzusehen; jedenfalls wird in ihr zugleich auch eine Entscheidung über den Aufbau der Logik liegen; daher die Wichtigkeit dieses Problems für die wissenschaftliche Weltauffassung. Manche sind der Meinung, daß die drei Richtungen einander gar nicht so fern stehen, wie es scheint. Sie vermuten, daß wesentliche Züge der drei Richtungen sich in der weiteren Entwicklung einander annähern und, wahrscheinlich unter Verwertung der weittragenden Gedanken Wittgensteins, in der schließlichen Lösung vereinigt sein werden.
Die Auffassung vom tautologischen Charakter der Mathematik, die auf den Untersuchungen von Russell und Wittgenstein beruht, wird auch vom Wiener Kreis vertreten. Es ist zu beachten, daß diese Auffassung nicht nur zu Apriorismus und Intuitionismus im Gegensatz steht, sondern auch zu dem älteren Empirismus (zum Beispiel Mill), der Mathematik und Logik gewissermaßen experimentell-induktiv ableiten wollte.
Im Zusammenhang mit den Problemen der Arithmetik und Logik stehen auch die Untersuchungen, die über das Wesen der axiomatischen Methode im allgemeinen (Begriffe der Vollständigkeit, Unabhängigkeit, Monomorphie, Nichtgabelbarkeit usw.) wie auch über die Aufstellung von Axiomensystemen für bestimmte mathematische Gebiete angestellt werden.
2. Grundlagen der Physik
Ursprünglich galt das stärkste Interesse des Wiener Kreises den Problemen der Methode der Wirklichkeitswissenschaft. Angeregt durch Gedanken von Mach, Poincare, Duhem wurden die Probleme der Bewältigung der Wirklichkeit durch wissenschaftliche Systeme, insbesondere durch Hypothesen- und Axiomensysteme, erörtert. Ein Axiomensystem kann zunächst, gänzlich gelöst von aller empirischen Anwendung, betrachtet werden als ein System impliziter Definitionen; damit ist gemeint: Die in den Axiomen auftretenden Begriffe werden nicht ihrem Inhalte nach, sondern nur in ihren gegenseitigen Beziehungen durch die Axiome festgelegt, gewissermaßen definiert. Bedeutung für die Wirklichkeit erlangt ein solches Axiomensystem aber erst durch Hinzufügen weiterer Definitionen, nämlich der »Zuordnungsdefinitionen«, durch die angegeben wird, welche Gegenstände der Wirklichkeit als Glieder des Axiomensystems betrachtet werden sollen. Die Entwicklung der empirischen Wissenschaft, die die Wirklichkeit mit einem möglichst einheitlichen und einfachen Netz von Begriffen und Urteilen wiedergeben will, kann nun, wie sich geschichtlich zeigt, in zweierlei Weise vor sich gehen. Die durch neue Erfahrungen erforderlichen Änderungen können entweder an den Axiomen oder an den Zuordnungsdefinitionen vorgenommen werden. Damit ist das besonders von Poincare behandelte Problem der Konventionen berührt.
Das methodologische Problem der Anwendung von Axiomensystemen auf Wirklichkeit kommt grundsätzlich für jeden Wissenschaftszweig in Betracht. Daß die Untersuchungen bisher aber fast ausschließlich für die Physik fruchtbar geworden sind, ist zu verstehen aus dem gegenwärtigen Stadium der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft, da die Physik in bezug auf Schärfe und Feinheit der Begriffsbildung den anderen Wissenschaftszweigen weit voraus ist.
Die erkenntnistheoretische Analyse der Hauptbegriffe der Naturwissenschaft hat diese Begriffe immer mehr von den metaphysischen Beimengungen befreit, die ihnen seit Urzeiten anhafteten. Insbesondere sind durch Helmholtz, Mach, Einstein und andere die Begriffe Raum, Zeit, Substanz, Kausalität, Wahrscheinlichkeit gereinigt worden. Die Lehren von absolutem Raum und absoluter Zeit sind durch die Relativitätstheorie überwunden; Raum und Zeit sind nicht mehr absolute Behälter, sondern nur noch Ordnungsgefüge der Elementarvorgänge. Die materielle Substanz ist durch Atomtheorie und Feldtheorie aufgelöst worden. Die Kausalität wurde ihres anthropomorphen Charakters einer »Einwirkung« oder »notwendigen Verknüpfung« entkleidet und auf Bedingungsbeziehung, funktionale Zuordnung, zurückgeführt. Weiterhin sind an Stelle mancher für streng gehaltener Naturgesetze statistische Gesetze getreten, ja es mehren sich im Anschluß an die Quantentheorie sogar die Zweifel an der Anwendbarkeit des Begriffes einer streng kausalen Gesetzmäßigkeit auf die Erscheinungen in kleinsten Raumzeitgebieten. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff wird auf den empirisch erfaßbaren Begriff der relativen Häufigkeit zurückgeführt.
Durch die Anwendung der axiomatischen Methode auf die genannten Probleme scheiden sich überall die empirischen Bestandteile der Wissenschaft von den bloß konventionellen, der Aussagegehalt von der Definition. Für ein synthetisches Urteil a priori bleibt da kein Platz mehr. Daß Erkenntnis der Welt möglich ist, beruht nicht darauf, daß die menschliche Vernunft dem Material ihre Form aufprägt, sondern darauf, daß das Material in einer bestimmten Weise geordnet ist. Über Art und Grad dieser Ordnung kann von vornherein nichts gewußt werden. Die Welt könnte weit stärker geordnet sein, als sie es ist; sie könnte aber auch viel weniger geordnet sein, ohne daß die Erkennbarkeit verlorengehen würde. Nur die Schritt für Schritt weiter dringende Forschung der Erfahrungswissenschaft kann uns darüber belehren, in welchem Grade die Welt gesetzmäßig ist. Die Methode der Induktion, der Schluß vom Gestern aufs Morgen, vom Hier aufs Dort, ist freilich nur gültig, wenn eine Gesetzmäßigkeit besteht. Aber diese Methode beruht nicht etwa auf einer apriorischen Voraussetzung dieser Gesetzmäßigkeit. Sie mag überall dort, ob genügend oder ungenügend begründet, angewendet werden, wo sie zu fruchtbaren Ergebnissen führt; Sicherheit gewährt sie nie. Aber die erkenntnistheoretische Besinnung fordert, daß einem Induktionsschluß nur insoweit Bedeutung beigelegt wird, als er empirisch nachgeprüft werden kann. Die wissenschaftliche Weltauffassung wird den Erfolg einer Forschungsarbeit nicht deshalb verwerfen, weil er mit unzulänglichen, logisch ungenügend geklärten oder empirisch ungenügend begründeten Mitteln errafft worden ist. Wohl aber wird sie stets die Nachprüfung mit durchgeklärten Hilfsmitteln erstreben und fordern, nämlich die mittelbare oder unmittelbare Rückführung auf Erlebtes.
3. Grundlagen der Geometrie
Unter den Grundlagen der Physik hat das Problem des physikalischen Raumes in den letzten Jahrzehnten eine besondere Bedeutung gewonnen. Die Untersuchungen von Gauß (1816), Bolyai (1823), Lobatschefskij (1855) und anderen führten zur nichteuklidischen Geometrie, zu der Erkenntnis, daß das bis dahin alleinherrschende, klassische geometrische System von Euklid nur eines unter einer unendlichen Menge logisch gleichberechtigter ist. Dadurch erhob sich die Frage, welche dieser Geometrien die des Raumes der Wirklichkeit sei. Schon Gauß wollte diese Frage durch Ausmessung der Winkelsumme eines großen Dreiecks entscheiden. Damit war die physikalische Geometrie zu einer empirischen Wissenschaft, zu einem Zweige der Physik geworden. Die Probleme wurden weiterhin besonders durch Riemann (1868), Helmholtz (1868) und Poincare (1904) gefördert. Poincare betonte besonders die Verknüpfung der physikalischen Geometrie mit allen anderen Zweigen der Physik: die Frage nach der Natur des Raumes der Wirklichkeit ist nur im Zusammenhang mit einem Gesamtsystem der Physik beantwortbar. Einstein fand dann ein solches Gesamtsystem, durch das diese Frage beantwortet wurde; und zwar im Sinne eines bestimmten nichteuklidischen Systems.
Durch die genannte Entwicklung wurde die physikalische Geometrie immer deutlicher geschieden von der rein mathematischen Geometrie. Diese wurde durch weitere Entwicklung der logischen Analyse schrittweise mehr und mehr formalisiert. Zunächst wurde sie arithmetisiert, das heißt gedeutet als Theorie eines bestimmten Zahlensystems. Weiterhin wurde sie axiomatisiert, das heißt dargestellt durch ein Axiomensystem, das die geometrischen Elemente (Punkte usw.) als unbestimmte Gegenstände auffaßt und nur ihre gegenseitigen Beziehungen festlegt. Und schließlich wurde die Geometrie logisiert, nämlich dargestellt als eine Theorie bestimmter Relationsstrukturen. Die Geometrie wurde so zum wichtigsten Anwendungsgebiet der axiomatischen Methode und der allgemeinen Relationstheorie. Sie gab damit den stärksten Anstoß zur Entwicklung dieser beiden Methoden, die dann für die Entwicklung der Logik selbst und damit wiederum allgemein für die wissenschaftliche Weltauffassung so bedeutungsvoll geworden sind.
Die Beziehungen zwischen mathematischer und physikalischer Geometrie führten naturgemäß auf das Problem der Anwendung von Axiomensystemen auf Wirklichkeit, das dann auch, wie erwähnt, in den allgemeineren Untersuchungen über die Grundlagen der Physik eine große Rolle spielt.
4. Grundlagenprobleme der Biologie und Psychologie
Die Biologie ist von den Metaphysikern stets mit Vorliebe als ein Sondergebiet ausgezeichnet worden. Das kam in der Lehre von einer besonderen Lebenskraft, im Vitalismus, zum Ausdruck. Die modernen Vertreter dieser Lehre bemühen sich, sie aus der unklaren, verschwommenen Form der Vergangenheit in eine begrifflich klare Fassung zu bringen. An Stelle der Lebenskraft treten die »Dominanten« (Reinke, 1899) oder »Entelechien« (Driesch, 1905). Da diese Begriffe nicht der Forderung nach Zurückführbarkeit auf das Gegebene genügen, so werden sie von der wissenschaftlichen Weltauffassung als metaphysisch abgelehnt. Das gleiche gilt vom sogenannten »Psychovitalismus«, der ein Eingreifen der Seele, eine »Führerrolle des Geistigen im Materiellen« lehrt. Schält man aber aus dem metaphysischen Vitalismus den empirisch faßbaren Kern heraus, so bleibt die These übrig, daß die Vorgänge in der organischen Natur nach Gesetzen verlaufen, die sich nicht auf physikalische Gesetze zurückführen lassen. Genauere Analyse zeigt nun, daß diese These gleichbedeutend ist mit der Behauptung, gewisse Gebiete der Wirklichkeit unterständen nicht einer einheitlichen und durchgreifenden Gesetzmäßigkeit.
Es ist verständlich, daß die wissenschaftliche Weltauffassung auf den Gebieten, die sich schon zu begrifflicher Schärfe entwickelt haben, für ihre Grundansichten deutlichere Bestätigungen aufweisen kann als auf anderen Gebieten: auf dem Gebiet der Physik deutlichere als auf dem der Psychologie. Die sprachlichen Formen, in denen wir noch heute auf dem Gebiet des Psychischen sprechen, sind in alter Zeit gebildet auf Grund gewisser metaphysischer Vorstellungen von der Seele. Die Begriffsbildung auf dem Gebiete der Psychologie wird vor allem erschwert durch diese Mängel der Sprache: metaphysische Belastung und logische Unstimmigkeit. Dazu kommen noch gewisse sachliche Schwierigkeiten. Die Folge ist, daß bisher die meisten in der Psychologie verwendeten Begriffe nur recht mangelhaft definiert sind; von manchen steht nicht einmal fest, ob sie sinnvoll sind oder ob sie nur durch den Sprachgebrauch als sinnvoll vorgetäuscht werden. So bleibt auf diesem Gebiet für die erkenntnistheoretische Analyse noch beinahe alles zu tun; freilich ist diese Analyse hier auch schwieriger als auf dem Gebiet des Physischen. Der Versuch der behavioristischen Psychologie, alles Psychische in dem Verhalten von Körpern, also in einer der Wahrnehmung zugänglichen Schicht, zu erfassen, steht in seiner grundsätzlichen Einstellung der wissenschaftlichen Weltauffassung nahe.
5. Grundlagen der Sozialwissenschaften
Jeder Zweig der Wissenschaft wird, wie wir es besonders bei der Physik und der Mathematik betrachtet haben, in einem früheren oder späteren Stadium seiner Entwicklung zu der Notwendigkeit einer erkenntnistheoretischen Nachprüfung seiner Grundlagen, einer logischen Analyse seiner Begriffe geführt. So auch die soziologischen Wissenschaftsgebiete, in erster Linie Geschichte und Nationalökonomie. Schon seit etwa hundert Jahren ist auf diesen Gebieten ein Prozeß der Ausscheidung metaphysischer Beimengungen im Gange. Hier ist zwar noch nicht derselbe Grad der Reinigung wie in der Physik erreicht; andererseits aber ist hier vielleicht die Reinigungsaufgabe auch weniger dringend. Wie es scheint, ist nämlich hier der metaphysische Einschuß auch in den Höhezeiten der Metaphysik und Theologie nicht sonderlich stark gewesen; vielleicht liegt das daran, daß die Begriffe diese Gebietes, wie: Krieg und Frieden, Einfuhr und Ausfuhr, der unmittelbaren Wahrnehmung noch näher stehen als solche Begriffe wie Atom und Ather. Es fällt nicht allzu schwer, solche Begriffe wie »Volksgeist« fallenzulassen und statt dessen Gruppen von Individuen bestimmter Art zum Objekt zu nehmen. Quesnay, Adam Smith, Ricardo, Comte, Marx, Menger, Walras, Müller-Lyer, um Forscher verschiedenster Richtung zu nennen, haben im Sinne empiristischer, antimetaphysischer Einstellung gewirkt. Gegenstand der Geschichte und Nationalökonomie sind Menschen, Dinge und ihre Anordnung.
Aus den Arbeiten an den angeführten Problemen heraus hat die moderne wissenschaftliche Weltauffassung sich entwickelt. Wir haben gesehen, wie in der Physik das Bestreben, zunächst selbst mit unzulänglichen oder noch ungenügend geklärten wissenschaftlichen Werkzeugen handgreifliche Ergebnisse zu gewinnen, sich immer stärker auch zu methodologischen Untersuchungen gedrängt sah. So kam es zur Entwicklung der Methode der Hypothesenbildung und dann weiter zur Entwicklung der axiomatischen Methode und der logischen Analyse; damit gewann die Begriffsbildung immer größere Klarheit und Strenge. Auf dieselben methodologischen Probleme führte, wie wir gesehen haben, auch die Entwicklung der Grundlagenforschung in physikalischer Geometrie, mathematischer Geometrie und Arithmetik. Hauptsächlich aus diesen Quellen stammen die Probleme, mit denen sich die Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung gegenwärtig vorzugsweise beschäftigen. Es ist verständlich, daß im Wiener Kreis die Herkunft der einzelnen von den verschiedenen Problemgebieten her noch deutlich erkennbar bleibt. Dadurch ergeben sich oft auch Unterschiede der Interessenrichtungen und Gesichtspunkte, die zu Unterschieden der Auffassung führen. Kennzeichnend ist aber, daß durch die Bemühung um präzise Formulierung, um Anwendung einer exakten logischen Sprache und Symbolik, um deutliche Unterscheidung des theoretischen Gehaltes einer These von den bloßen Begleitvorstellungen das Trennende verringert wird. Schritt für Schritt wird der Bestand an gemeinsamen Auffassungen vergrößert, die den Kern wissenschaftlicher Weltauffassung bilden, an den sich die äußeren Schichten mit stärkerer subjektiver Divergenz anschließen.
Rückblickend wird uns nun das Wesen der neuen wissenschaftlichen Weltauffassung im Gegensatz zur herkömmlichen Philosophie deutlich. Es werden nicht eigene »philosophische Sätze« aufgestellt, sondern nur Sätze geklärt; und zwar Sätze der empirischen Wissenschaft, wie wir es bei den verschiedenen vorhin erörterten Problemgebieten gesehen haben. Manche Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung wollen, um den Gegensatz zur Systemphilosophie noch stärker zu betonen, für ihre Arbeit das Wort »Philosophie« überhaupt nicht mehr anwenden. Wie solche Untersuchungen nun auch bezeichnet werden mögen, das jedenfalls steht fest: es gibt keine Philosophie als Grund- oder Universalwissenschaft neben oder über den verschiedenen Gebieten der einen Erfahrungswissenschaft; es gibt keinen Weg zu inhaltlicher Erkenntnis neben dem der Erfahrung; es gibt kein Reich der Ideen, das über oder jenseits der Erfahrung stände. Dennoch bleibt die Arbeit der »philosophischen« oder »Grundlagen«-Untersuchungen im Sinne der wissenschaftlichen Weltauffassung wichtig. Denn die logische Klärung der wissenschaftlichen Begriffe, Sätze und Methoden befreit von hemmenden Vorurteilen. Die logische und erkenntnistheoretische Analyse will der wissenschaftlichen Forschung nicht etwa Einschränkungen auferlegen; im Gegenteil: sie stellt ihr einen möglichst vollständigen Bereich formaler Möglichkeiten zur Verfügung, aus dem die zu der jeweiligen Erfahrung stimmende auszuwählen ist (Beispiel: die nichteuklidischen Geometrien und die Relativitätstheorie).
Die Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung stehen entschlossen auf dem Boden der einfachen menschlichen Erfahrung. Sie machen sich mit Vertrauen an die Arbeit, den metaphysischen und theologischen Schutt der Jahrtausende aus dem Wege zu räumen. Oder, wie einige meinen: nach einer metaphysischen Zwischenzeit zu einem einheitlichen diesseitigen Weltbild zurückzukehren, wie es in gewissem Sinne schon dem von Theologie freien Zauberglauben der Frühzeit zugrunde gelegen habe.
Die Zunahme metaphysischer und theologisierender Neigungen, die sich heute in vielen Bünden und Sekten, in Büchern und Zeitschriften, in Vorträgen und Universitätsvorlesungen geltend macht, scheint zu beruhen auf den heftigen sozialen und wirtschaftlichen Kämpfen der Gegenwart: die eine Gruppe der Kämpfenden, auf sozialem Gebiet das Vergangene festhaltend, pflegt auch die überkommenen, oft inhaltlich längst überwundenen Einstellungen der Metaphysik und Theologie; während die andere, der neuen Zeit zugewendet, besonders in Mitteleuropa diese Einstellungen ablehnt und sich auf den Boden der Erfahrungswissenschaft stellt. Diese Entwicklung hängt zusammen mit der des modernen Produktionsprozesses, der immer stärker maschinentechnisch ausgestaltet wird und immer weniger Raum für metaphysische Vorstellungen läßt. Sie hängt auch zusammmen mit der Enttäuschung breiter Massen über die Haltung derer, die die überkommenen metaphysischen und theologischen Lehren verkünden. So kommt es, daß in vielen Ländern die Massen jetzt weit bewußter als je zuvor diese Lehren ablehnen und im Zusammenhang mit ihrer sozialistischen Einstellung einer erdnahen, empiristischen Auffassung zuneigen. In früherer Zeit war der Materialismus der Ausdruck für diese Auffassung; inzwischen aber hat der moderne Empirismus sich aus manchen unzulänglichen Formen herausentwickelt und in der wissenschaftlichen Weltauffassung eine haltbare Gestalt gewonnen.
So steht die wissenschaftliche Weltauffassung dem Leben der Gegenwart nahe. Zwar drohen ihr sicherlich schwere Kämpfe und Anfeindungen. Trotzdem gibt es viele, die nicht verzagen, sondern, angesichts der soziologischen Lage der Gegenwart, hoffnungsfroh der weiteren Entwicklung entgegensehen. Freilich wird nicht jeder einzelne Anhänger der wissenschaftlichen Weltauffassung ein Kämpfer sein. Mancher wird, der Vereinsamung froh, auf den eisigen Firnen der Logik ein zurückgezogenes Dasein führen; mancher vielleicht sogar die Vermengung mit der Masse schmähen, die bei der Ausbreitung unvermeidliche »Trivialisierung« bedauern. Aber auch ihre Leistungen fügen sich der geschichtlichen Entwicklung ein. Wir erleben, wie der Geist wissenschaftlicher Weltauffassung in steigendem Maße die Formen persönlichen und öffentlichen Lebens, des Unterrichts, der Erziehung, der Baukunst durchdringt, die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen leiten hilft. Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben, und das Leben nimmt sie auf.
Otto Neurath, 1929
In: Wissenschaftliche Weltauffassung Sozialismus und Logischer Emprismus (hrsg. R. Hegelmann), Suhrkamp, S.81-101