Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke



Die ersten drei dieser vier Begriffe sind in den letzten fünfundzwanzig Jahren ausgiebig verwendet worden, während von dem vierten Begriff, Gedanke, nicht soviel Aufhebens gemacht worden ist.
Leider liefern die Methoden im Musikunterricht, anstatt die Schüler gründlich mit der Musik selbst vertraut zu machen, ein Konglomerat mehr oder weniger wahrer historischer Fakten, versüßt mit einer großen Anzahl mehr oder weniger falscher Anekdoten über den Komponisten, seine Ausführenden, sein Publikum und seine Kritiker, plus eine starke Dosis popularisierter Asthetik. So las ich einmal in einer Prüfungsarbeit einer Studentin im zweiten Studienjahr, die nur wenig Harmonielehre und viel »Musikverständnis« [als Fach] studiert, aber gewiß nicht viel tönende Musik gehört hatte, daß »Schumanns Instrumentation trübe und unklar« sei. Diese Weisheit stammte wörtlich genau aus dem Lehrbuch, das in der Klasse benutzt wurde. Manche Fachleute für Instrumentation würden vielleicht sogar ohne Argument der Verdammung Schumanns als Instrumentator zustimmen. Indessen könnte es andere Fachleute geben, die sich darüber einig wären, daß nicht die ganze Instrumentation von Schumann schlecht sei - daß es trübe ebenso wie glänzende oder zumindest gute Stellen gebe; sie wüßten auch, daß dieser Vorwurf von dem Streit zwischen der Wagnerischen »Neudeutschen« Schule und der Schumann-Brahmsischen akademisch-klassizistischen Schule herrührt und daß die Kritiker so glänzende Stellen aus Wagners Musik im Sinn hatten, wie den Feuerzauber, das Meistersinger- Vorspiel, die Venusberg- Musik und andere. Eine solche Brillanz ist in Schumanns Musik nur selten zu finden. Aber manche Fachleute wissen auch, daß es sehr wenige Kompositionen gibt, deren Instrumentation makellos ist. Mehr als zwei Jahrzehnte nach Wagners Tod, zum Beispiel, überdeckte seine Orchesterbegleitung die Stimmen der Sänger noch so, daß sie unhörbar wurden. Ich weiß, daß Gustav Mahler seine Instrumentation zugunsten der Durchsichtigkeit sehr ändern mußte. Und Strauss selbst hat mir mehrere Stellen gezeigt, an denen er auszugleichen genötigt war.
Es herrscht also nicht der gleiche Grad von Einmütigkeit unter den Instrumentationsexperten wie zwischen der Studentin im zweiten Jahr und ihrem Lehrbuch. Aber nicht wiedergutzumachender Schaden ist angerichtet worden; dieses Mädchen, und wahrscheinlich all ihre Klassenkameraden, wird Schumanns Orchester niemals naiv, aufnahmebereit und unvoreingenommen zuhören. Am Ende des Semesters wird sie Kenntnisse in Musikgeschichte, Musikästhetik und Musikkritik plus einer Anzahl amüsanter Anekdoten erworben haben; aber leider wird sie sich vielleicht nicht einmal an ein einziges dieser trübe instrumentierten Themen von Schumann erinnern. In ein paar Jahren wird sie ihren Master of Arts in Musik machen oder Lehrerin geworden sein, oder beides, und wird verbreiten, was man sie gelehrt hat: fertige Urteile, falsche und oberflächliche Vorstellungen von Musik, Musikern und Asthetik.
Auf diese Weise werden eine große Anzahl von Pseudohistorikern herangebildet, die sich selbst für Fachleute und als solche für berechtigt halten, nicht nur Musik und Musiker zu kritisieren, sondern sich sogar die Rolle von Führern anzumaßen, Einfluß auf die Entwicklung der Tonkunst zu gewinnen und sie im voraus zu organisieren.
Wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg erlangten solche Pseudohistoriker eine beherrschende Stimme in ganz Westeuropa, indem sie die Zukunft der Musik voraussagten. In allen musikschaffenden Ländern, in Frankreich, Italien, Deutschland, Osterreich, Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen kam plötzlich das Schlagwort auf:
                    » NEUE MUSIK «
Dieser Kampfruf war offensichtlich geschaffen worden, weil einer dieser Pseudohistoriker sich daran erinnert hatte, daß mehrmals in der Vergangenheit der gleiche Kampfruf, oder ein ähnlicher, eine neue Richtung in der Kunst gefördert hatte. Ein Kampfruf muß vielleicht oberflächlich und wenigstens teilweise falsch sein, wenn er Popularität erringen soll. So können wir Schopenhauers Geschichte von der Uberraschung eines antiken griechischen Redners verstehen, der, als er plötzlich von Applaus und Hochrufen unterbrochen wurde, ausrief: »Habe ich irgendeinen Unsinn gesagt?« Die Popularität, die dieses Schlagwort »Neue Musik« erreicht hat, erregt sofort Verdacht und zwingt einen, seine Bedeutung in Frage zu stellen.
Was ist Neue Musik ?
Offensichtlich muß das Musik sein, die, obwohl sie immer noch Musik ist, sich in allem Wesentlichen von früher komponierter Musik unterscheidet. Offensichtlich muß sie etwas ausdrücken, was bisher noch nicht in der Musik ausgedrückt worden ist. Offensichtlich ist in der höheren Kunst nur dasjenige darstellenswert, was nie zuvor dargestellt worden ist. Es gibt kein großes Kunstwerk, das nicht der Menschheit eine neue Botschaft vermittelt; es gibt keinen großen Künstler, der in dieser Hinsicht versagt. Dies ist der Ehrenkodex aller Großen in der Kunst, und folglich werden wir in allen großen Werken der Großen jene Neuheit finden, die niemals vergeht, sei sie von Josquin des Pres, von Bach oder Haydn, oder von irgendeinem anderen großen Meister.
Denn: Kunst heißt Neue Kunst.
Die Vorstellung, dieses Schlagwort »Neue Musik« könne den Lauf des Musikschaffens ändern, beruhte vermutlich auf dem Glauben, daß »die Geschichte sich wiederholt«. Wie jeder weiß, entstand noch zu Lebzeiten Bachs ein neuer Musikstil, aus dem später der Stil der Wiener Klassiker erwuchs, der homophon-melodische Kompositionsstil oder, wie ich ihn nenne, der Stil der entwickelnden Variation. Wenn also die Geschichte sich wirklich wiederholte, würde auch in unserer Zeit die Annahme genügen, man brauche die Schaffung einer neuen Musik nur zu fordern, und das Fertigprodukt werde sofort serviert.
Dies heißt die Symptome für die Ursachen halten. Die wirklichen Ursachen für Wandlungen im musikalischen Kompositionsstil sind andere. Wenn Musiker in einer Periode homophoner Komposition eine große Kunstfertigkeit im Hervorbringen von Melodien erworben hatten - das heißt von Hauptstimmen, die die Begleitstimmen zu fast bedeutungsloser üntergeordnetheit reduzierten, um jeden möglichen Inhalt in sich selbst zu konzentrieren - mochten andere Komponisten durch eine derartige Kunstfertigkeit, die schon zu einem schematischen Mechanismus zu entarten schien, wohl beunruhigt sein. Sie mochten sich sodann noch mehr über die Minderwenigkeit der Begleitung als über das, was ihnen als Süße der Melodie erschien, beunruhigen. Während in dieser Periode nur eine Richtung des musikalischen Raumes, die horizontale Linie, entwickelt worden war, mochten die Komponisten der nächsten Periode einer Tendenz entsprochen haben, die verlangte, auch die Begleitstimmen zu beleben - das heißt, der vertikalen Richtung des musikalischen Raumes zu folgen. Solche Tendenzen mochten jene reichere Ausarbeitung der Begleitung verursacht haben, wie sie bei Beethoven gegenüber Haydn, bei Brahms gegenüber Mozart oder bei Wagner gegenüber Schumann zu sehen ist. Obwohl in all diesen Fällen der Reichtum der Melodie nicht im geringsten gelitten hat, ist die Rolle der Begleitung gesteigert worden, indem sie ihren Beitrag zu der allgemeinen Wirkung erhöht hat. Kein Historiker braucht einem Beethoven, einem Brahms, einem Wagner zu sagen, er solle seine Begleitung mit Vitaminen anreichern. Wenigstens diese drei Männer hätten ihn, eigensinnig wie sie waren, hinausgeworfen.
Und umgekehrt:
Wäre in einer bestimmten Periode jede beteiligte Stimme im Hinblick auf ihren Inhalt, ihr formales Gleichgewicht und ihre Beziehung zu anderen Stimmen als Teil eines kontrapunktischen Gefüges ausgearbeitet worden, wäre ihr Anteil an melodischer Eloquenz geringer, als wenn sie die Hauptstimme wäre. Wiederum könnte dann in jüngeren Komponisten eine Sehnsucht aufsteigen, sich all dieser Kompliziertheit zu entledigen. Sie könnten es also ablehnen, sich mit dem Kombinieren und Ausarbeiten von Nebenstimmen zu befassen. So wäre das Verlangen, nur eine Stimme auszuarbeiten und die Begleitung auf das für die Faßlichkeit erforderliche Minimum zu reduzieren, wieder die herrschende Mode.
Solcherart sind die Gründe, die Wandlungen in den Kompositionsmethoden hervorbringen. In vielfältigem Sinne braucht Musik Zeit. Sie braucht meine Zeit, sie braucht deine Zeit, sie braucht ihre eigene Zeit. Es wäre höchst ärgerlich, wenn sie nicht bestrebt wäre, in jedem Bruchteil dieser Zeit die wichtigsten Dinge in konzentriertester Weise zu sagen. Daher kommt es, daß Komponisten, wenn sie die Technik erworben haben, eine Richtung bis zur höchsten Belastbarkeit mit Inhalt zu füllen, das gleiche in der nächsten Richtung tun müssen und schließlich in allen Richtungen, in denen Musik sich ausbreitet. Solche Entwicklung kann nur schrittweise vor sich gehen. Die Notwendigkeit, einen Kompromiß mit der Faßlichkeit zu schließen, verbietet es, in einen Stil hineinzuspringen, der mit Inhalt überladen ist, in einen Stil, bei dem zu oft Fakten ohne Bindeglieder aneinandergereiht werden und der zu Schlußfolgerungen springt, bevor sie richtig ausgereift sind.
Ich bezweifle, daß, wenn die Musik ihre frühere Richtung verließ und sich in dieser Weise neuen Zielen zuwandte, die Männer, die diese Veränderung herbeiführten, der Ermunterung von Pseudohistorikern bedurften. Wir wissen, daß sie - die Telemanns, die Couperins, die Rameaus, die Keysers, die Ph. E. Bachs und andere -etwas Neues geschaffen haben, das erst später zur Periode der Wiener Klassiker führte. Ja, ein neuer Stil in der Musik wurde geschaffen, aber mußte deshalb die Musik der vorausgegangenen Periode veralten?
Merkwürdigerweise geschah es zu Beginn dieser Periode, daß J. S. Bachs Musik als veraltet bezeichnet wurde. Und höchst merkwürdigerweise war einer von denen, die dies behaupteten, J. S. Bachs eigener Sohn Ph. E. Bach, dessen Größe man in Frage stellen könnte, wüßte man nicht, daß Mozart und Beethoven mit großer Bewunderung auf ihn blickten. Für sie schien er noch ein Führer, sogar nachdem sie selbst den ersten ziemlich negativen Prinzipien der Neuen Musik so positive Prinzipien wie das der entwickelnden Variation hinzugefügt hatten zusätzlich zu vielen bis dahin unbekannten strukturellen Mitteln wie jenen der Uberleitung, der Liquidation, der dramatischen Reprise, der mannigfaltigen Durchführung, der Ableitung von Nebenthemen, der höchst differenzierten Dynamik - crescendo, decrescendo, sforzato, piano subito, marcato etc. - und besonders der neuen Technik der legato- und staccato-Passagen, accelerando und ritardando, und der Festsetzung des Tempos und Charakters durch spezifische Beiwörter.
Beethovens Worte: »Das ist nicht ein Bach, das ist ein Meer« stellen die richtige Reihenfolge her. Er hat dies nicht von Philipp Emanuel, sondern von Johann Sebastian gesagt. Hätte er nicht hinzufügen sollen: Wer ist der Bach? Jedenfalls:
Während J. S. Bach bis 1750 unzählige Werke schrieb, deren Originalität uns um so erstaunlicher scheint, je mehr wir uns mit seiner Musik befassen; während er einen neuen, noch nie dagewesenen Musikstil nicht nur entwickelte, sondern wirklich schuf; während das wahre Wesen dieser Neuheit von den Fachleuten immer noch nicht bemerkt wird -
Nein, Entschuldigung: Ich fühle mich verpflichtet zu beweisen, was ich sage, und verabscheue es, dies so leichthin und oberflächlich zu sagen, als ob ich sagen sollte:
Neue Musik.
Das Neue an Bachs Kunst kann man nur erfassen, wenn man es einerseits mit dem Stil der Niederländischen Schule und andererseits mit der Kunst Händeis vergleicht.
Die Geheimnisse der Niederländer, die dem Uneingeweihten strikt verwehrt waren, beruhten auf einer vollständigen Erkenntnis der möglichen kontrapunktischen Beziehungen zwischen den sieben Tönen der diatonischen Skala. Diese befähigte die Eingeweihten, Kombinationen hervorzubringen, die viele Arten vertikaler und horizontaler Versetzungen und andere ähnliche Verwandlungen zuließen. Aber die restlichen fünf Töne waren in diesen Regeln nicht einbegriffen, und falls sie überhaupt erschienen, so außerhalb der kontrapunktischen Kombinationen und als gelegentliche Auswechslung.
Im Gegensatz dazu erweiterte Bach, der mehr Geheimnisse kannte, als die Niederländer je besaßen, diese Regeln solchermaßen, daß sie alle zwölf Töne der chromatischen Skala umfaßten. Bach arbeitete mit den zwölf Tönen manchmal auf solche Weise, daß man geneigt sein könnte, ihn als den ersten Zwölftonkomponisten zu bezeichnen.
Hat man bemerkt, daß die kontrapunktische Flexibilität der Themen Bachs aller
Wahrscheinlichkeit nach auf seinem instinktiven Denken in mehrfachem Kontrapunkt beruht, das Spielraum für zusätzliche Stimmen läßt, und vergleicht man seinen Kontrapunkt dann mit Händeis, so scheint der Kontrapunkt des letzteren dürftig und einfach, und seine Nebenstimmen sind wirklich minderwertig.
Auch in anderer Hinsicht steht Bachs Kunst höher als Händeis. Als Theaterkomponist vermochte Händel immer mit einem charakteristischen und oft ausgezeichneten Thema zu beginnen. Aber danach erfolgt, abgesehen von den Wiederholungen des Themas, ein Abfall, der nur bringt, was der Herausgeber von Grove's Dictionary als »dummes Zeug« bezeichnen würde - leere, bedeutungslose, etüdenhaft gebrochene Akkordfiguren. Im Gegensatz dazu sind selbst Bachs überleitende und untergeordnete Abschnitte immer voller Charakter, Erfindungskraft, Phantasie und Ausdruck. Obgleich seine Nebenstimmen niemals in Minderwertigkeit abgleiten, vermag er flüssige und wohl ausgewogene Melodien von größerer Schönheit, Gedankenfülle und Ausdruckskraft zu schreiben als in der Musik jener Keysers, Telemanns und Philipp Emanuel Bachs zu finden sind, die ihn veraltet nannten. Sie waren natürlich nicht fähig zu sehen, daß er auch der Erste war, der gerade jene für den Fortschritt ihrer Neuen Musik so notwendige Technik einführte: die Technik der »entwickelnden Variation«, die den Stil der großen Wiener Klassiker ermöglichte.
Während Bach so - wie gesagt - Werk auf Werk in einem neuen Stil schrieb, fiel seinen Zeitgenossen nichts Besseres ein, als ihn zu ignorieren. Man kann sagen, daß von ihrer Neuen Musik nicht viel lebendig geblieben ist, obwohl man nicht leugnen darf, daß sie der Anfang einer neuen Kunst war. Aber es gibt zwei Punkte, in denen sie irrten. Erstens waren es keine musikalischen »Gedanken«, die ihre Neue Musik einführen wollte, sondern nur ein neuer Darstellungsstil musikalischer Gedanken, ganz gleich, ob diese neu oder alt waren; es war eine Welle im Fortschritt der Musik, eine, die, wie zuvor beschrieben, versuchte, die andere Richtung des musikalischen Raumes zu entwickeln, die horizontale Linie. Zweitens hatten sie unrecht, als sie Bachs Musik veraltet nannten. Zumindest war sie nicht für immer veraltet, wie die Geschichte zeigt; heute ist ihre Neue Musik veraltet, während Bachs Musik ewig geworden ist. Aber nun sollte man auch den Begriff »veraltet« untersuchen.
Beispiele für diesen Begriff lassen sich eher in unserem Alltagsleben als im intellektuellen Bereich finden. Langes Haar, zum Beispiel, galt vor dreißig Jahren als bedeutender Beitrag zur weiblichen Schönheit. Wer weiß, wie bald die kurzhaarige Mode veraltet sein wird? Pathos war vor etwa hundert Jahren einer der am meisten bewunderten Vorzüge der Dichtkunst; heute mutet es lächerlich an und wird nur zu satirischen Zwecken verwendet. Das elektrische Licht hat das Kerzenlicht veralten lassen; aber Snobs benutzen das letztere immer noch, weil sie es in den Schlössern des Adels gesehen haben, wo kunstvoll geschmückte Wände durch elektrische Leitungen zerstört worden wären.
Zeigt dies an, weshalb etwas veraltet?
Langes Haar wurde altmodisch, weil arbeitende Frauen es als hinderlich ansahen. Das Pathos wurde altmodisch, als der Naturalismus das wirkliche Leben und die Sprechweise der Menschen, wenn sie ihre Geschäfte zu Ende bringen wollten, nachzeichnete. Kerzenlicht wurde altmodisch, als die Leute merkten, wie sinnlos es ist, seinen Dienstboten - wenn man sie überhaupt bekommen kann - unnötig Arbeit zu machen.
Der gemeinsame Faktor bei all diesen Beispielen war ein Wandel unserer Lebensformen.
Kann man das Gleiche von Musik behaupten? Welche Lebensform macht romantische Musik unangemessen? Gibt es keine Romantik mehr in unserer Zeit? Lassen wir uns nicht begeisterter von unseren Automobilen überfahren als die alten Römer sich von ihren Rennwagen? Sind nicht immer noch junge Leute zu finden, die sich auf Abenteuer einlassen, für die sie vielleicht mit dem Leben bezahlen müssen, obwohl der Ruhm, den sie ernten, mit der Titelseite des nächsten Tages verblaßt? Wäre es nicht leicht, zahlreiche junge Männer zu finden, die in einem Raketenflugzeug zum Mond fliegen würden, wenn die Gelegenheit sich böte? Ist die Begeisterung von Leuten jeglichen Alters für unsere Tarzans, Supermen, Lone Rangers und unverwüstlichen Detektive nicht das Ergebnis einer Liebe für das Romantische? Die Indianergeschichten unserer Jugendzeit waren nicht romantischer; die Gegenstände heißen bloß anders.
Ein Vorwurf gegen die Romantik betrifft ihre Kompliziertheit. Freilich könnte es, falls man sich Partituren von Strauss, Debussy, Mahler, Ravel, Reger oder mir selber ansehen müßte, schwierig sein zu entscheiden, ob all diese Kompliziertheit nötig ist. Aber die Entscheidung eines erfolgreichen jungen Komponisten: »Die heutige jüngere Generation mag keine Musik, die sie nicht versteht«, stimmt nicht überein mit dem Empfinden der Helden, die sich auf Abenteuer einlassen. Man könnte erwarten, daß ein junger Mensch dieser Art, der von dem Schwierigen, Gefährlichen, Geheimnisvollen angezogen wird, eher sagen würde: »Ja, bin ich denn ein Kretin, daß man mir nur solches dummes Zeug vorsetzt, das ich verstehe, ehe ich es zu Ende gehört habe?« oder sogar: »Diese Musik ist kompliziert, aber ich will nicht nachgeben, bis ich sie verstehe.« Natürlich werden Menschen dieser Art von Tiefe, Gedankenreichtum, schwierigen Problemen eher entflammt sein. Intelligente Menschen sind zu allen Zeiten beleidigt gewesen, wenn man sie mit Dingen belästigt hat, die jeder Trottel sofort verstehen konnte.
Der Leser wird gewiß bemerkt haben, daß es nicht nur meine Absicht ist, längst verstorbene Pseudohistoriker und die Komponisten, die die Bewegung der Neuen Musik in Gang gebracht haben, anzugreifen. Obwohl ich mit Vergnügen die Gelegenheit benützt habe, etwas über die weniger bekannten Verdienste der Kunst Bachs zu schreiben, und obwohl ich mich über die Gelegenheit gefreut habe, einige Beiträge der Wiener Klassiker zur Entwicklung der Kompositionstechnik aufzuzählen, zögere ich nicht zuzugeben, daß der Angriff auf die Propagandisten der Neuen Musik gegen ähnliche Bewegungen in unserer eigenen Zeit gerichtet ist. Bis auf einen Unterschied -daß ich kein Bach bin - besteht eine große Ahnlichkeit zwischen den beiden Epochen.
Eine oberflächliche Beurteilung könnte die Komposition mit zwölf Tönen für einen Abschluß der Periode, in der sich die Chromatik entwickelte, halten und sie deshalb mit dem höhepunktartigen Abschluß der Periode der kontrapunktischen Komposition vergleichen, den Bach durch seine unübertreffliche Meisterschaft gesetzt hat. Daß diesem Höhepunkt nur geringere Werte folgen konnten, ist eine Art Rechtfertigung für die Hinwendung seiner jüngeren Zeitgenossen zur Neuen Musik.
Aber - auch in dieser Hinsicht bin ich kein Bach - ich glaube, daß die Komposition mit zwölf Tönen und das, was viele irrtümlicherweise »atonale Musik« nennen, nicht den Abschluß einer alten, sondern den Beginn einer neuen Periode bilden. Wie vor zweihundert Jahren wird wiederum etwas als veraltet bezeichnet; und wiederum handelt es sich nicht um ein bestimmtes Werk oder mehrere Werke eines einzelnen Komponisten; wiederum ist es nicht speziell die größere oder geringere Fähigkeit eines einzelnen Komponisten, über die ein Scherbengericht gehalten worden ist. Wiederum nennt es sich Neue Musik, und dieses Mal nehmen sogar noch mehr Nationen an dem Kampf teil. Abgesehen von nationalistischem Streben nach einer exportierbaren Musik, mit der selbst kleinere Nationen den Markt zu erobern hoffen, gibt es einen gemeinsamen Zug, der in all diesen Bewegungen zu beobachten ist; keine von ihnen beschäftigt sich mit der Darstellung neuer Gedanken, sondern lediglich mit der Darstellung eines neuen Stils. Und wiederum bieten sich die Prinzipien, auf denen diese Neue Musik beruhen soll, noch negativer dar als die strengsten Regeln des strengsten alten Kontrapunkts. Es sollten vermieden werden:
Chromatik, expressive Melodien, Wagnersche Harmonien, Romantik, private biographische Andeutungen, Subjektivität, funktional-harmonische Fortschreitungen, Schilderungen, Leitmotive, Zusammengehen mit der Stimmung oder Handlung der Szene und charakteristische Textdeklamation in Opern, Liedern und Chören. Mit anderen Worten, alles, was in der vorhergehenden Periode gut war, sollte jetzt nicht vorkommen.
Außer diesen offiziell genehmigten »Verboten« habe ich zahlreiche negative Vorzüge beobachtet wie etwa: Orgelpunkte (anstatt ausgearbeiteter Baßstimmen und sich bewegender Harmonie), Ostinatos, Sequenzen (anstatt entwickelnder Variation), Fugatos (zu ähnlichen Zwecken), Dissonanzen (die das Vulgäre des thematischen Materials verdecken), Objektivität (Neue Sachlichkeit) und eine Art Polyphonie, die den Kontrapunkt ersetzt und früher wegen ihrer ungenauen Imitation als »Kapellmeistermusik« oder was ich »Rhabarber-Kontrapunkt« genannt habe, verachtet worden wäre. Das Wort »Rhabarber«, von nur fünf oder sechs Leuten hinter der Szene gesprochen, klang für das Publikum in einem Theater wie ein aufrührerischer Pöbelhaufen. So klang der thematisch bedeutungslose Kontrapunkt, wie das Wort »Rhabarber«, als ob er eine wirkliche Bedeutung hätte.
In meiner Jugend, als man noch in Brahms' Nähe lebte, war es üblich, daß ein Musiker, wenn er eine Komposition zum ersten Mal hörte, ihren Aufbau bemerkte, daß er fähig war, der Verarbeitung und Ableitung ihrer Themen und ihren Modulationen zu folgen, und daß er die Anzahl der Stimmen in Kanons und die Anwesenheit des Themas in einer Variation zu erkennen vermochte; und es gab sogar Laien, die eine Melodie nach einmaligem Hören im Gedächtnis mit nach Hause nehmen konnten. Aber gewiß wurde nicht viel von Stil geredet. Und wenn ein Musikhistoriker gewagt hätte, sich an einer Diskussion zu beteiligen, so hätte es nur einer sein können, der imstande war, ähnliche Eigenschaften einzig mit dem Ohr wahrzunehmen. Dessen waren Musikkritiker wie Hanslick, Kalbeck, Heuberger und Speidel und Liebhaber wie der berühmte Arzt Billroth fähig.
Die positiven und negativen Regeln dürfen von einem fertigen Werk als Bestandteile seines Stils abgeleitet werden. Jeder hat eigene Fingerabdrücke, und die Hand jedes Handwerkers hat ihre persönlichen Eigenschaften; aus solcher Subjektivität erwachsen die Züge, die den Stil des fertigen Produkts ausmachen. Jeder Handwerker ist durch die Unzulänglichkeit seiner Hände eingeschränkt, aber er wird auch durch ihre besonderen Fähigkeiten unterstützt. Der Stil all dessen, was er tut, hängt von seiner Natur ab, und so wäre es falsch, von einem Zwetschgenbaum zu erwarten, daß er gläserne Zwetschgen oder Birnen oder Filzhüte trage. Unter allen Bäumen ist es lediglich der 'weihnachtsbaum, der Früchte trägt, die für ihn nicht natürlich sind, und unter den Tieren ist es lediglich der Osterhase, der Eier legt, und sogar bunte.
Stil ist die Eigenschaft eines Werkes und beruht auf natürlichen Bedingungen, die den ausdrücken, der ihn hervorbrachte. In der Tat mag einer, der seine Fähigkeiten kennt, imstande sein genau vorauszusagen, wie das fertige Werk, das er vorerst noch nur in seiner Phantasie wahrnimmt, aussehen wird. Aber er wird nie von einem vorgefaßten Bild eines Stils ausgehen; er wird unaufhörlich damit beschäftigt sein, dem Gedanken gerecht zu werden. Er ist sicher, daß, nachdem alles, was der Gedanke fordert, getan ist, die äußere Erscheinungsform angemessen sein wird.
Falls es mir ausreichend geglückt ist, einige sich von denen meiner Gegner unterscheidende Ansichten über Neue Musik, veraltete Musik und Stil zu zeigen, würde ich jetzt gern zu meiner mir selbst gestellten Aufgabe der Erörterung dessen kommen, was mir als das Wichtigste in einem Kunstwerk erscheint - der Gedanke.
Ich bin mir bewußt, daß das Eintreten in diesen Bereich einige Gefahr in sich birgt. Gegner haben mich wegen meiner Methode, mit zwölf Tönen zu komponieren -nicht, um mir zu schmeicheln -, einen Konstrukteur, einen Ingenieur, einen Architekten, ja selbst einen Mathematiker genannt. Obgleich sie meine Verklärte Nacht und die Gurrelieder kennen, haben sie trotz des Gefallens, den manche Leute an diesen Werken wegen ihres Gefühlsausdrucks finden, meine Musik als trocken bezeichnet und mir Spontaneität abgesprochen. Sie haben behauptet, ich böte die Produkte eines Hirns, nicht eines Herzens.
Ich habe oft darüber nachgedacht, ob die Leute, die ein Hirn besitzen, diese Tatsache lieber verbergen würden. Ich bin in meiner eigenen Haltung durch das Beispiel Beethovens bestärkt worden, der seine Antwort auf einen mit »Gutsbesitzer« unterschriebenen Brief seines Bruders Johann mit »Hirnbesitzer« unterzeichnete. Man könnte fragen, warum Beethoven gerade betonte, daß er ein Hirn besaß. Er hatte soviele andere Vorzüge, auf die er stolz sein konnte, zum Beispiel, daß er imstande war, Musik zu komponieren, die manche Leute für hervorragend hielten, daß er ein vollendeter Pianist war - und als solcher sogar vom Adel anerkannt - und daß er seine Verleger zufriedenzustellen vermochte, indem er ihnen für ihr Geld etwas von Wert gab. Warum nannte er sich gerade »Himbesitzer«, wenn der Besitz eines Hirns für viele Pseudohistoriker als Gefahr für die künstlerische Naivität gilt?
Eine eigene Erfahrung mag vielleicht erläutern, auf welche Weise ein Hirn nach Ansicht der Leute gefährlich sein könnte. Ich habe es niemals für nötig gehalten zu verbergen, daß ich imstande bin, logisch zu denken, daß ich scharf zwischen richtigen und falschen Begriffen unterscheide und daß ich sehr genaue Vorstellungen von dem habe, was Kunst sein sollte. So mag ich bei einer Anzahl von Diskussionen einem meiner Tennispartner, der lyrische Gedichte schrieb, ein bißchen zuviel Hirn gezeigt haben. Er vergalt nicht Gleiches mit Gleichem, sondern erzählte mir boshaft die Lreschichte von der JS.rote, die den l ausendtuisier fragte, oü er immer wisse, weicnei seiner tausend Füße denn eben an der Reihe auszuschreiten sei, worauf der Tausendfüßler, der notwendigen Entscheidung nun bewußt, seine instinktive Fähigkeit überhaupt zu gehen, verlor.
Tatsächlich, eine große Gefahr für einen Komponisten! Und vielleicht hülfe e;
nicht einmal, sein Hirn zu verbergen; nur keines zu haben würde genügen. Aber icl glaube, dies braucht niemanden, der ein Hirn besitzt, zu entmutigen; denn ich habe bemerkt, daß, wenn einer nicht hart genug gearbeitet und nicht sein Bestes geleiste hat, der Herrgott es ablehnt, seinen Segen dazuzugeben. Er hat uns ein Hirn gegeben um es zu benutzen. Natürlich ist ein Gedanke nicht immer das Ergebnis vor Hirnarbeit. Gedanken können den Geist so ungerufen und vielleicht sogar so unerwünscht überfallen, wie ein musikalischer Ton das Ohr oder ein Geruch die Nase erreicht.
Gedanken kann nur achten, wer sie auch hat; aber achten kann nur, wem selbst Achtung gebührt.
Der Unterschied zwischen Stil und Gedanke in der Musik ist vielleicht durch die vorausgehende Erörterung geklärt worden. Dies mag nicht der Ort sein, im einzelnern zu erörtern, was Gedanke an sich in der Musik bedeutet, weil fast jede musikalische Terminologie vage ist und die meisten ihrer Begriffe in verschiedener Bedeutung verwendet werden. In seiner weitesten Bedeutung wird der Begriff Gedanke als Synonym für Thema, Melodie, Phrase oder Motiv gebraucht. Ich selbst betrachte die Totalität eines Stückes als den Gedanken: den Gedanken, den sein Schöpfer darstellet wollte. Aber aus Mangel an besseren Begriffen bin ich gezwungen, den Begriff Gedanke auf folgende Weise zu definieren:
Jeder Ton, der einem Anfangston hinzugefügt wird, macht dessen Bedeutung zweifelhaft. Wenn zum Beispiel G auf C folgt, kann das Ohr nicht sicher sein, öb dadurch C-Dur oder G-Dur, oder sogar F-Dur oder e-Moll ausgedrückt wird; und die Hinzufügung anderer Töne kann dies Problem klären oder nicht. Auf diese Weise wird ein Zustand der Unruhe, der Unausgewogenheit erzeugt, die fast das ganze Stück hindurch wächst und durch ähnliche Funktionen des Rhythmus weiter verstärkt wird. Die Methode, durch die das Gleichgewicht wiederhergestellt wird scheint mir der eigentliche Gedanke der Komposition. Vielleicht könnte man die häufigen Wiederholungen von Themen, Gruppen und selbst längeren Abschnitten als Versuch zu einem frühzeitigen Ausgleich der innewohnenden Spannung ansehen.
Im Vergleich zu all unseren Entwicklungen in der Mechanik könnte ein Werkzeug wie eine Zange einfach scheinen. Ich habe den Geist, der sie erfunden hat, immer bestaunt. Um das Problem, das dieser Erfinder zu bewältigen hatte, zu verstehen, muß man sich den Stand der Mechanik vor Erfindung der Zange vorstellen. Dee Gedanke, den Kreuzungspunkt der beiden gekrümmten Arme so zu fixieren, daß die zwei kleineren Stücke vorn sich entgegengesetzt zu den beiden größeren Stücken hinten bewegen und damit die Kraft des Mannes, der sie zusammendrückt, derartig vervielfachen, daß er den Draht durchzuzwicken vermag - dieser Gedanke kann nur von einem Genie ersonnen worden sein. Gewiß gibt es heutzutage kompliziertere und bessere Werkzeuge, und es mag eine Zeit kommen, in der der Gebrauch der Zange und anderer ähnlicher Werkzeuge entbehrlich wird. Das Werkzeug selber mag außer Gebrauch kommen, aber der Gedanke dahinter kann niemals veralten. Und darin liegt der Unterschied zwischen einem bloßen Stil und einem wirklichen Gedanken.
Ein Gedanke kann niemals vergehen.
Es ist sehr bedauerlich, daß so viele zeitgenössische Komponisten sich soviel um Stil und so wenig um Gedanken kümmern. Daher kamen solche Einfälle wie der Versuch, in alten Stilen zu komponieren, indem man ihre Manierismen benutzte und sich auf das Wenige, was man auf diese Weise auszudrücken vermag, und auf die Bedeutungslosigkeit der musikalischen Konfigurationen beschränkte, die mit einem derartigen Rüstzeug hervorgebracht werden können.
Niemand sollte sich anderen Beschränkungen unterwerfen als jenen, die auf die Grenzen seiner Begabung zurückzuführen sind. Kein Geiger würde, nicht einmal gelegentlich, niedrigen musikalischen Geschmäckern zulieb mit falscher Intonation spielen, kein Seiltänzer würde nur zum Vergnügen oder um der populären Wirkung willen Schritte in die falsche Richtung tun, kein Schachspieler würde nur aus Gefälligkeit Züge machen, die jeder voraussehen könnte (und damit dem Gegner erlauben zu gewinnen), kein Mathematiker würde etwas Neues in der Mathematik erfinden, nur um den Massen zu schmeicheln, die nicht die spezifisch mathematische Denkweise besitzen, und gleichermaßen würde kein Künstler, kein Dichter, kein Philosoph und kein Musiker, deren Denken sich in den höchsten Sphären vollzieht, zum Vulgären hinabsinken, um einem derartigen Schlagwort wie »Kunst für alle« Genüge zu tun. Denn wenn es Kunst ist, ist sie nicht für alle, und wenn sie für alle ist, ist sie keine Kunst.
Höchst beklagenswert ist das Handeln einiger Künstler, die auf arrogante Weise glauben machen wollen, daß sie von ihren Höhen hinuntersteigen, um den Massen etwas von ihrem Reichtum zu geben. Das ist Heuchelei. Aber es gibt ein paar Komponisten wie Offenbach, Johann Strauß und Gershwin, deren Gefühle sich tatsächlich mit denen des »durchschnittlichen Mannes auf der Straße« decken. Für sie ist es keine Verstellung, volkstümliche Gefühle in volkstümlichen Wendungen auszudrücken. Sie sind natürlich, wenn sie so und darüber reden.
Wer wirklich sein Hirn zum Denken benutzt, kann nur von einem Wunsch besessen sein: seine Aufgabe zu lösen. Er kann die Ergebnisse seines Denkens nicht von äußeren Bedingungen beeinflussen lassen. Zwei mal zwei ist vier - ob es einem paßt oder nicht.
Man denkt nur um seines Gedankens willen.
Und so kann Kunst nur um ihrer selbst willen geschaffen werden. Ein Gedanke entsteht; er muß gebildet, gestaltet, entwickelt, ausgearbeitet, durchgerührt und ganz zu Ende gedacht werden.
Denn es gibt nur »l'art pour l'art«, Kunst allein um der Kunst willen.

In: Schönberg, Arnold: Gesammelte Schriften 1 (hrsg. von Ivan Vojtech). Nördlingen, 1976, S. 25-34
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