Das Verhältnis zum Text



Es gibt relativ wenig Menschen, die imstande sind, rein musikalisch zu verstehen, was Musik zu sagen hat. Die Annahme, ein Tonstück müsse Vorstellungen irgendwelcher Art erwecken, und wenn solche ausbleiben, sei das Tonstück nicht verstanden worden oder es tauge nichts, ist so weit verbreitet, wie nur das Falsche und Banale verbreitet sein kann. Von keiner Kunst verlangt man Ahnliches, sondern begnügt sich mit den Wirkungen ihres Materials, wobei allerdings in den ändern Künsten das Stoffliche, der dargestellte Gegenstand, dem beschränkten Auffassungsvermögen des geistigen Mittelstandes von selbst entgegenkommt. Da der Musik als solcher Stoffliches fehlt, suchen die einen hinter ihren Wirkungen rein formale Schönheit, die ändern poetische Vorgänge. Selbst Schopenhauer, der erst durch den wundervollen Gedanken: »Der Komponist offenbart das innerste Wesen der Welt und spricht die tiefste Weisheit aus, in einer Sprache, die seine Vernunft nicht versteht; wie eine magnetische Somnambule Aufschlüsse gibt über Dinge, von denen sie wachend keinen Begriff hat«, wirklich Erschöpfendes über das Wesen der Musik sagt, verliert sich später, indem er versucht, Einzelheiten dieser Sprache, die die Vernunft nicht versteht, in unsere Begriffe zu übersetzen. Obwohl ihm dabei klar sein muß, daß bei dieser Ubersetzung in die Begriffe, in die Sprache des Menschen, welche Abstraktion, Reduktion aufs Erkennbare ist, das Wesentliche, die Sprache der Welt, die vielleicht unverständlich bleiben und nur fühlbar sein soll, verlorengeht. Aber immerhin ist er berechtigt zu solchem Vorgehen, da es ja sein Zweck als Philosoph ist, das Wesen der Welt, den unüberblickbaren Reichtum, darzustellen durch die Begriffe, durch die nur allzuleicht zu durchschauende Armut. Und auch Wagner, wenn er dem Durchschnittsmenschen einen mittelbaren Begriff von dem geben wollte, was er als Musiker unmittelbar erschaut hatte, tat recht, wenn er Beethovenschen Symphonien Programme unterlegte.
Verhängnisvoll wird solch ein Vorgang, wenn er Allgemeinbrauch wird. Dann verkehrt sich sein Sinn ins Gegenteil: man sucht in der Musik Vorgänge und Gefühle zu erkennen, so als ob sie drin sein müßten. Während es sich bei Wagner in Wirklichkeit so verhält: der durch die Musik empfangene Eindruck »vom Wesen der Welt« wird in ihm produktiv und regt eine Nachdichtung im Material einer ändern Kunst an. Aber die Vorgänge und Gefühle, die in dieser Dichtung vorkommen, waren nicht in der Musik enthalten, sondern sind bloß das Baumaterial, dessen sich der Dichter nur darum bedient, weil der noch ans Stoffliche gebundenen Dichtkunst eine so unmittelbare, durch nichts getrübte, reine Aussprache versagt ist.
Diese Fähigkeit reinen Schauens ist äußerst selten und nur bei hochstehenden Menschen anzutreffen. Das erklärt, warum gewisse Schwierigkeiten den berufsmäßigen Bearbeiter in Verlegenheit setzen. Daß nämlich unsere Partituren immer schwerer lesbar werden, die relativ seltenen Aufführungen aber so rasch vorbeigehen, daß oft selbst der Sensitivste und Reinste nur flüchtige Eindrücke empfangen kann, macht es dem Kritiker, der berichten und beurteilen muß, dem aber meist die Fähigkeit fehlt, sich eine Partitur lebendig vorzustellen, unmöglich, auch nur mit jener Ehrlichkeit sein Amt zu versehen, zu der er sich vielleicht wenigstens dann entschlösse, wenn sie ihm nicht schadet. In absoluter Hilflosigkeit steht er der rein musikalischen Wirkung gegenüber, und deshalb schreibt er lieber über Musik, die sich irgendwie auf Text bezieht: über Programmusik, Lieder, Opern etc. Man könnte ihm das fast verzeihen, wenn man beobachtet, daß Theaterkapellmeister, von denen man etwas über die Musik einer neuen Oper erfahren möchte, fast ausschließlich vom Textbuch, von der Theaterwirkung und von den Darstellern schwätzen. Es gibt ja wirklich, seitdem die Musiker gebildet sind und meinen, das beweisen zu müssen, indem sie sich vor dem Fachsimpeln hüten, kaum mehr Musiker, mit denen man über Musik reden kann! Aber Wagner, auf den man sich sehr gerne beruft, hat enorm viel über rein Musikalisches geschrieben; und ich bin sicher, er würde diese Folgen seiner mißverstandenen Bestrebungen unbedingt desavouieren.
Nichts als ein bequemer Ausweg aus diesem Dilemma ist es daher, wenn ein Musikkritiker über einen Autor schreibt, seine Komposition werde den Worten des Dichters nicht gerecht. Der »Rahmen des Blattes«, in welchem es immer gerade an Raum mangelt, wenn notwendige Beweise zu erbringen wären, kommt stets bereitwilligst dem Mangel an Ideen zu Hilfe, und der Künstler wird eigentlich wegen »Mangel an Beweisen« schuldig gesprochen. Die Beweise für solche Behauptungen aber, wenn sie einmal erbracht werden, sind vielmehr Zeugen fürs Gegenteil, da sie nur aussagen, wie einer Musik machen würde, der keine machen kann, wie die Musik also keinesfalls aussehen dürfte, wenn sie von einem Künstler sein soll. Das trifft sogar in dem Fall zu, wo ein Komponist Kritiken schreibt. Selbst wenn's ein guter ist. Denn im Moment, wo er Kritiken schreibt, ist er nicht Komponist: nicht musikalisch inspiriert. Wäre er inspiriert, so beschriebe er nicht, wie das Stück zu komponieren ist, sondern komponierte es. Das geht für den, der's kann, sogar schneller und bequemer und ist überzeugender.
In Wirklichkeit kommen solche Urteile von der allerbanalsten Vorstellung, von einem konventionellen Schema, wonach bestimmten Vorgängen in der Dichtung eine gewisse Tonstärke und Schnelligkeit in der Musik bei absolutem Parallelgehen entsprechen müsse. Abgesehen davon, daß selbst dieses Parallelgehen, ja ein noch viel tieferes, auch dann stattfinden kann, wenn sich äußerlich scheinbar das Gegenteil davon zeigt, daß also ein zarter Gedanke beispielsweise durch ein schnelles und heftiges Thema wiedergegeben wird, weil eine darauffolgende Heftigkeit sich organischer daraus entwickelt, abgesehen davon, ist ein solches Schema schon deshalb verwerflich, weil es konventionell ist. Weil es dazu führte, auch aus der Musik eine Sprache zu machen, die für jeden »dichtet und denkt«. Und seine Anwendung durch Kritiker führt zu Erscheinungen, wie zu einem Aufsatz, den ich einmal irgendwo gelesen habe: Deklamationsfehler bei Wagner, in dem ein Flachkopf zeigte, wie er gewisse Stellen komponiert hätte, wenn Wagner ihm nicht zuvorgekommen wäre. Ich war vor ein paar Jahren tief beschämt, als ich entdeckte, daß ich bei einigen mir wohlbekannten Schubert-Liedern gar keine Ahnung davon hatte, was in dem zugrunde liegenden Gedicht eigentlich vorgehe. Als ich aber dann die Gedichte gelesen hatte, stellte sich für mich heraus, daß ich dadurch für das Verständnis dieser Lieder gar nichts gewonnen hatte, da ich nicht im geringsten durch sie genötigt war, meine Auffassung des musikalischen Vertrags zu ändern. Im Gegenteil: es zeigte sich mir, daß ich, ohne das Gedicht zu kennen, den Inhalt, den wirklichen Inhalt, sogar vielleicht tiefer erfaßt hatte, als wenn ich an der Oberfläche der eigentlichen Wortgedanken haften geblieben wäre. Noch entscheidender als dieses Erlebnis war mir die Tatsache, daß ich viele meiner Lieder, berauscht von dem Anfangsklang der ersten Textworte, ohne mich auch nur im geringsten um den weiteren Verlauf der poetischen Vorgänge zu kümmern, ja ohne diese im Taumel des Komponierens auch nur im geringsten zu erfassen, zu Ende geschrieben und erst nach Tagen darauf kam, nachzusehen, was denn eigentlich der poetische Inhalt meines Liedes sei. Wobei sich dann zu meinem größten Erstaunen herausstellte, daß ich niemals dem Dichter voller gerecht worden bin, als wenn ich, geführt von der ersten unmittelbaren Berührung mit dem Anfangsklang, alles erriet, was diesem Anfangsklang eben offenbar mit Notwendigkeit folgen mußte.
Mir war daraus klar, daß es sich mit dem Kunstwerk so verhalte wie mit jedem vollkommenen Organismus. Es ist so homogen in seiner Zusammensetzung, daß es in jeder Kleinigkeit sein wahrstes, innerstes Wesen enthüllt. Wenn man an irgendeiner Stelle des menschlichen Körpers hineinsticht, kommt immer dasselbe, immer Blut heraus. Wenn man einen Vers von einem Gedicht, einen Takt von einem Tonstück hört, ist man imstande, das Ganze zu erfassen. Genauso wie ein Wort, ein Blick, eine Geste, der Gang, ja sogar die Haarfarbe genügen, um das Wesen eines Menschen zu erkennen. So hatte ich die Schubert-Lieder samt der Dichtung bloß aus der Musik, Stefan Georges Gedichte bloß aus dem Klang heraus vollständig vernommen. Mit einer Vollkommenheit, die durch Analyse und Synthese kaum erreicht, jedenfalls nicht übertroffen worden wäre. Allerdings wenden sich solche Eindrücke meist nachträglich an den Verstand und verlangen von ihm, daß er sie für einen umgänglichen Gebrauch herrichte, daß er zerlege und sortiere, messe und prüfe, und in Einzelheiten auflöse, was man als Ganzes besitzt. Allerdings geht sogar das künstlerische Schaffen oft diesen Umweg, ehe es zur eigentlichen Konzeption gelangt. Wenn Karl Kraus die Sprache Mutter des Gedankens nennt, W. Kandinsky und Oskar Kokoschka Bilder malen, denen der stoffliche äußere Gegenstand kaum mehr ist als ein Anlaß, in Farben und Formen zu phantasieren und sich so auszudrücken, wie sich bisher nur der Musiker ausdrückte, so sind das Symptome für eine allmählich sich ausbreitende Erkenntnis von dem wahren Wesen der Kunst. Und mit großer Freude lese ich Kandinskys Buch Über das Geistige in der Kunst, in welchem der Weg für die Malerei gezeigt wird und die Hoffnung erwacht, daß jene, die nach dem Text, nach dem Stofflichen fragen, bald ausgefragt haben werden.
Dann wird auch klar werden, was in einem ändern Fall schon klar war. Kein Mensch zweifelt daran, daß ein Dichter, der einen historischen Stoff bearbeitet, sich mit der größten Freiheit bewegen darf und daß, wenn ein Maler heute noch Historienbilder malen wollte, er nicht genötigt wäre, mit einem Geschichtsprofessor zu konkurrieren. Weil man sich an das zu halten hat, was das Kunstwerk geben will, und nicht an das, was sein äußerer Anlaß ist. Weil also auch bei allen Kompositionen nach Dichtungen die Genauigkeit der Wiedergabe der Vorgänge für den Kunstwert ebenso irrelevant ist wie für das Porträt die Ähnlichkeit mit dem Vorbild, wo doch nach hundert Jahren keiner diese Ähnlichkeit mehr kontrollieren kann, während noch immer die Kunstwirkung bestehen bleibt. Und nicht deshalb besteht, weil, wie vielleicht die Impressionisten meinen, ein wirklicher Mensch, nämlich der scheinbar dargestellte, sondern der Künstler uns anspricht, der sich hier ausgedrückt hat, der, dem in einer höheren Wirklichkeit das Porträt ähnlich zu sehen hat. Hat man das eingesehen, so ist es auch leicht zu begreifen, daß die äußerliche Ubereinstimmung zwischen Musik und Text, wie sie sich in Deklamation, Tempo und Tonstärke zeigt, nur wenig zu tun hat mit der Innern und auf derselben Stufe primitiver Naturnachahmung steht wie das Abmalen eines Vorbildes. Und daß scheinbares Divergieren an der Oberfläche nötig sein kann wegen eines Parallelgehens auf einer höheren Ebene. Daß also die Beurteilung nach dem Text ebenso verläßlich ist wie die Beurteilung der Eiweißstoffe nach den Eigenschaften des Kohlenstoffs.

In: Schönberg, Arnold: Gesammelte Schriften 1 (hrsg. von Ivan Vojtech). Nördlingen, 1976, S. 3-6
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