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Rezension der Schrift von G. Frege, "Die Grundlagen der Arithmetik"




Der Zweck dieses Schriftchens, die Grundlagen der Arithmetik einer erneuten Untersuchung zu unterwerfen, ist ein löblicher, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß dieser Zweig der Mathematik, welcher allen anderen mathematischen Disziplinen zur Basis dient, eine weit tiefere Erforschung seiner Grundbegriffe und Methoden verlangt, als sie ihm bisher im allgemeinen zu Teil geworden ist. Auch muß anerkannt werden, daß der Verf. den richtigen Gesichtspunkt erfaßt hat, indem er die Forderung aufstellt, daß sowohl die räumliche wie die zeitliche Anschauung und ebenso alle psychologischen Momente von den arithmetischen Begriffen und Grundsätzen ferngehalten werden müssen, weil nur auf diesem Wege ihre streng logische Reinheit und damit die Berechtigung gewonnen werden kann, das Hilfsmittel der Arithmetik auf die anschaulichen Erkenntnisobjekte anzuwenden. Den weitaus größten Raum widmet der Verf. einer von diesem Gesichtspunkt aus unternommenen kritischen Beleuchtung von bisherigen, auf die Begründung der Arithmetik hinzielenden Versuchen; die Ausstellungen, welche er den bezüglichen Lehren Kants, Stuart Mills und anderer entgegensetzt, sind meist zutreffend und können der Beachtung empfohlen werden. Weniger erfolgreich dagegen scheint mir sein eigener Versuch zu sein, den Zahlbegriff streng zu begründen. Der Verf. kommt nämlich auf den unglücklichen Gedanken - und es scheint, daß er dabei einer Andeutung Ueberwegs in dessen "System der Logik" 53 gefolgt ist - dasjenige, was in der Schullogik der "Umfang eines Begriffes" genannt wird, zur Grundlage des Zahlbegriffs zu nehmen; er übersieht ganz, daß der "Umfang eines Begriffs" quantitativ im allgemeinen etwas völlig Unbestimmtes ist; nur in gewissen Fällen ist der "Umfang eines Begriffs" quantitativ bestimmt, dann kommt ihm allerdings, wenn er endlich ist, eine bestimmte Zahl und, falls er unendlich ist, eine bestimmte Mächtigkeit zu. Für eine derartige quantitative Bestimmung des "Umfangs eines Begriffs" müssen aber die Begriffe "Zahl" und "Mächtigkeit" vorher von anderer Seite her bereits gegeben sein, und es ist eine Verkehrung des Richtigen, wenn man unternimmt, die letzteren Begriffe auf den Begriff "Umfang eines Begriffs" zu gründen. Wenn dem Verf. diese Sachlage entgangen ist, so muß dies wohl dem Umstand zugeschrieben werden, daß sein prinzipieller Irrtum allerdings ziemlich versteckt in der Umhüllung seiner äußerst subtilen Distinktionen verborgen liegt. Ich halte es daher auch nicht für zutreffend, wenn der Verf. in 85 die Meinung ausspricht, dasjenige, was ich "Mächtigkeit" nenne, stimme mit dem überein, was er "Anzahl" nennt. Ich nenne "Mächtigkeit eines Inbegriffs oder einer Menge von Elementen" (wobei letztere gleich - oder ungleichartig, einfach oder zusammengesetzt sein können) denjenigen Allgemeinbegriff, unter welchen alle Mengen, welche der gegebenen Menge äquivalent sind, und nur diese fallen. Zwei Mengen werden hierbei "äquivalent" genannt, wenn sie sich gegenseitig eindeutig, Element für Element, einander zuordnen lassen. Ein anderes ist es, was ich "Anzahl" oder "Ordnungszahl" nenne; ich schreibe sie nur "wohlgeordneten Mengen" zu, und zwar verstehe ich unter der "Anzahl oder Ordnungszahl einer wohlgeordneten Menge" denjenigen Allgemeinbegriff, unter welchen alle wohlgeordneten Mengen, welche der gegebenen ähnlich sind, und nur diese fallen. "Ähnlich" nenne ich zwei wohlgeordnete Mengen, wenn sie sich gegenseitig eindeutig, Element für Element, unter Wahrung der gegebenen Elementenfolge auf beiden Seiten, aufeinander abbilden lassen. Bei endlichen Mengen fallen die beiden Momente "Mächtigkeit" und "Anzahl" gewissermaßen zusammen, weil eine endliche Menge in jeder Anordnung ihrer Elemente als "wohlgeordnete Menge" eine und dieselbe Ordnungszahl hat; dagegen tritt bei unendlichen Mengen der Unterschied von "Mächtigkeit" und "Ordnungszahl" aufs stärkste zutage, wie dies in meinem Schriftchen "Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre", Leipzig 1883, deutlich gezeigt worden ist.
Was der Verf. gegen meinen Gebrauch des Wortes "Anzahl" sagt, erscheint wenig begründet: er beruft sich auf den populären Sprachgebrauch, der bei Fixierung wissenschaftlicher Begriffe überhaupt nicht maßgebend sein darf, im vorliegenden Falle aber, wo er sich doch wohl nur auf endliche Mengen bezieht, durch die bei mir vollzogene Verschärfung des Anzahlbegriffs kaum verletzt sein dürfte.



Cantor, Georg, 1885
In: Cantor, Georg : Gesammelete Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts (hrsg. Ernst Zermelo). Berlin Heidelberg New York 1980, S.440-442
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