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Über die verschiedenen Standpunkte in bezug auf das aktuelle Unendliche




... Ihr heute in meine Hände gelangter Brief vom 31. Okt. d. J. enthält folgende Frage: "Avez vous vu et étudié l'écrit de l'Abbé Moigno intitulé: Impossibilité du nombre actuellement infini; la science dans ses rapports avec la foi.' (Paris, Gauthier - Villars, 1884)?" Allerdings habe ich mir dieses Schriftchen vor einigen Wochen verschafft. Was Moigno hier über die angebliche Unmöglichkeit der aktual unendlichen Zahlen sagt, und die Nutzanwendung, welche er von diesem falschen Satze auf die Begründung gewisser Glaubenslehren macht, ist mir dem wesentlichen nach bereits aus Cauchy's: "Sept lecons de physique generale" (Paris, Gauthier-Villars, 1868) bekannt gewesen. Cauchy scheint zu dieser für einen Mathematiker höchst seltsamen Spekulation durch das Studium des P. Gerdil geführt worden zu sein. Letzterer (Hyacinth Sigmund, 1718-1802) war eine hochgestellte, sehr respektable Persönlichkeit und ein angesehener Philosoph, der als Professor eine Zeitlang in Turin wirkte, später Erzieher des nachmaligen Königs Karl Emanuel IV. von Piemont, dann vom Papst Pius VI. 1776 nach Röm berufen, zu mancherlei Geschäften des heil. Stuhles gebraucht und endlich zum Bischof von Ostia, wie auch zum Kardinal erhoben wurde. Ihnen wird er vielleicht als Verfasser einiger Arbeiten über Geometrie und über historische Gegenstände bekannt sein. Cauchy nimmt pag. 26 Bezug auf eine Abhandlung Gerdil's, welche den Titel führt: "Essai d'une démonstration mathématique contre l'existence éternelle de la matière et du mouvement, déduite de l'impossibilité démontrée d'une suite actuellement infinie de termes, soit permanents, soit successifs." (Opere edite ed inedite del cardinale Giacinto Sigismondo Gerdil, t. IV, p. 261, Rome 1806). Derselbe Gegenstand findet sich auch von ihm dargestellt im "Memoire de l'infini absolu considere dans la grandeur" (ibid. t. V. p. l, Rome 1807).
Ich stehe durchaus nicht in prinzipiellem Gegensatz zu diesen Autoren, sofern sie eine Harmonie zwischen Glauben und Wissen erstreben, halte aber das Mittel, dessen sie sich hier dazu bedienen, für ein gänzlich verfehltes.
Wenn die Glaubenssätze zu ihrer Stütze eines so grundfalschen Satzes, wie derjenige von der Unmöglichkeit aktual unendlicher Zahlen (der in der bekannten Formulierung "numerus infinitus repugnat" uralt ist; neuerdings findet er sich z.B. bei Tongiorgi: "Instit. philos. t. II, 3, a. 4, pr. 10" in der Form: "Multitudo actu infinita repugnat"; auch u. a. bei Chr. Sigwart "Logik, Bd. II. S. 47, Tübingen 1878" und bei K.Fischer "System der Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre S. 275, Heidelberg 1865 kann er gefunden werden) bedürften, so wäre es mit ihnen sehr schlecht bestellt und es scheint mir höchst bemerkenswert, daß der heil. Thomas von Aquino in I p, q. 2, a. 3 seiner "Summa theologica", wo er mit fünf Argumenten die Existenz Gottes beweist, von diesem fehlerhaften Satze keinen Gebrauch macht, obwohl er im übrigen kein Gegner desselben ist; jedenfalls erschien er ihm für diesen Zweck doch zu unsicher. (Vergl. Constantin Gutberiet: "Das Unendliche metaphysisch und mathematisch betrachtet", Mainz 1878, S. 9). So hoch ich Cauchy als Mathematiker und Physiker schätze, so sympathisch mir seine Frömmigkeit ist und so sehr mir im besondern auch jene "Sept Lecons de physique generale", abgesehen von dem in Rede stehenden Irrtum gefallen, muß ich doch entschieden gegen seine Autorität protestieren da, wo er gefehlt hat.
Es sind jetzt gerade zwei Jahre her, daß mich Herr Rudolf Lipschitz in Bonn auf eine gewisse Stelle im Briefwechsel zwischen Gauß und Schumacher aufmerksam machte, wo ersterer gegen jede Heranziehung des Aktual-Unendlichen in die Mathematik sich ausspricht (Brief v. 12. Juli 1831); ich habe ausführlich geantwortet und die Autorität von Gauß, welche ich in allen anderen Beziehungen so hoch halte, in diesem Punkte abgelehnt, sowie ich heute das Zeugnis Cauchy's und wie ich in meinem Schriftchen "Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre, Leipzig 1883" u. a. auch die Autorität Leibnizens, der in dieser Frage eine merkwürdige Inkonsequenz begangen hat, zurückweise.
Wenn Sie sich das soeben genannte Schriftchen (nicht die Übersetzung in den Acta mathematica t. II, wo nur ein Teil davon abgedruckt ist) genauer ansehen wollten, so würden Sie finden, daß ich in den §§ 4-8 im Grunde auf alle Einwürfe geantwortet habe, welche wider die Einführung aktual unendlicher Zahlen gemacht werden können. Sind mir auch damals die erwähnten Schriften von Gerdil, Cauchy und Moigno über unsern Gegenstand noch nicht bekannt gewesen, so werden doch die betreffenden Scheingründe dieser Autoren ebensowohl getroffen, wie die petitiones principii der von mir dort so reichlich angeführten Philosophen.
Alle sogenannten Beweise wider die Möglichkeit aktual unendlicher Zahlen sind, wie in jedem Falle besonders gezeigt und auch aus allgemeinen Gründen geschlossert werden kann, der Hauptsache nach dadurch fehlerhaft, und darin liegt ihr πρωτου ψευδος, daß sie von vornherein den in Frage stehenden Zahlen alle Eigenschaften der endlichen Zahlen zumuten oder vielmehr aufdrängen, während die unendlichen Zahlen doch andrerseits, wenn sie überhaupt in irgendeiner Form denkbar sein sollen, durch ihren Gegensatz zu den endlichen Zahlen ein ganz neues Zahlengeschlecht konstituieren müssen, dessen Beschaffenheit von der Natur der Dinge durchaus abhängig und Gegenstand der Forschung, nicht aber unserer Willkür oder unserer Vorurteile ist.
Pascal hat, wie ich erst kürzlich gesehen, das Bedenkliche, wenn nicht Widersinnige solcher Deduktionen, wie sie uns bei den genannten Schriftstellern begegnen, wohl erkannt und er spricht sich deshalb auch, ebenso wie sein Freund Antoine Arnauld für die aktual-unendlichen Zahlen aus, nur daß er aus einem ändern widerlegbaren Grunde, auf den ich hier nicht näher eingehen will, den menschlichen Geist in Hinsicht seiner Auffassungskraft des Aktual-unendlichen zu gering schätzt. (Vgl. Pascal, Oeuvres completes, t.1 p. 302-303, Paris, Hachette&Co. 1877; ferner: Logique de Port-Royal, ed. par C. Jourdin, 4R partie, chap. 1, Paris, Hachette & Co. 1877).
Wenn man die verschiedenen Ansichten, welche sich in bezug auf unsern Gegenstand, das Aktual-Unendliche (im folgenden Kürze halber mit A.-U. bezeichnet), im Laufe der Geschichte geltend gemacht haben, übersichtlich gruppieren will, so bieten sich dazu mehrere Gesichtspunkte dar, von denen ich heute nur einen hervorheben möchte.
Man kann nämlich das A.-U. in drei Hauptbeziehungen in Frage stellen: erstens, sofern es in Deo extramundano aeterno omnipotenti sive natura naturunte, wo es das Absolute heißt, zweitens sofern es in concreto seu in natura naturata vorkommt, wo ich es Transfinitum nenne und drittens kann das A.-U. in abstracto in Frage gezogen werden, d. h. sofern es von der menschlichen Erkenntnis in Form von aktual-unendlichen, oder wie ich sie genannt habe, von transfiniten Zahlen oder in der noch allgemeineren Form der transfiniten Ordnungstypen (αριθμοι νοητοι oder ειδητιχοι) aufgefaßt werden könne.
Sehen wir zunächst von dem ersten dieser drei Probleme ab und beschränken uns auf die beiden letzteren, so ergeben sich von selbst vier verschiedene Standpunkte, welche auch wirklich in Vergangenheit und Gegenwart sich vertreten finden.
Man kann erstens das A.-U. sowohl in concreto, wie auch in abstracto verwerfen, wie dies z.B. von Gerdil, Cauchy, Moigno in den angeführten Schriften, von Herrn Ch. Renouvier (vergl. dessen Esquisse d'une classification systematique des doctrines philosophiques, 1.1. pag. 100, Paris, au Bureau de la Critique philosophique, 1885) und von allen sogenannten Positivisten und deren Verwandten geschieht.
Zweitens kann man das A.-ü. in concreto bejahen, dagegen in abstracto verwerfen; dieser Standpunkt findet sich, wie ich in meinen "Grundlagen, pag. 16" hervorhob, bei Descartes, Spinoza, Leibniz, Locke und vielen anderen. Soll ich auch hier einen neueren Autor nennen, so erwähne ich Hermann Lotze, der in einem Aufsatze betitelt: "L'Infini actuel est-il contradictoire ? Reponse ä Monsieur Renouvier" in der Revue philos. de Ribot, t. IX, 1880 das A.-U. in concreto verteidigt; die Replik Renouviers findet sich in demselben Bande dieser Zeitschrift.
Es kann drittens das A.-U. in abstracto bejaht, dagegen in concreto verneint werden; auf diesem Standpunkt befindet sich ein Teil der Neuischolastiker, während ein andrer, und vielleicht der größere Teil dieser, durch die Enzyklika Leo's XIII, vom 4. August 1879: "De philosophia Christiana ad meutern Sancti Thomae Aquinatis Doctoris Angelici in scholis catholicis instauranda" mächtig angespornten Schule den ersten dieser vier Standpunkte noch zu verteidigen sucht.
Endlich kann viertens das A.-U. sowohl in concreto, wie auch in abstracto bejaht werden; auf diesem Boden, den ich für den einzig richtigen halte, stehen nur wenige; vielleicht bin ich der zeitlich erste, der diesen Standpunkt mit voller Bestimmtheit und in allen seinen Konsequenzen vertritt, doch das weiß ich sicher, daß ich nicht der letzte sein werde, der ihn verteidigt!
Wird auch die Stellung der Philosophen zu dem Problem des A.-U. in Deo berücksichtigt, so erhält man eine Klassifikation der Schulen in acht Standpunkte, welche merkwürdigerweise sämtlich vertreten zu sein scheinen. Eine Schwierigkeit der Einordnung in diese acht Klassen könnte sich nur bei denjenigen Autoren ergeben, welche in bezug auf eine oder mehrere der drei das A.-U. betreffenden Fragen keine bestimmte Position genommen haben.
Daß das sogenannte potentiale oder synkategorematische Unendliche (Indefinitum) zu keiner derartigen Einteilung Veranlassung gibt, hat darin seinen Grund, daß es ausschließlich als Beziehungsbegriff, als Hilfsvorstellung unseres Denkens Bedeutung hat, für sich aber keine Idee bezeichnet; in jener Rolle hat es allerdings durch die von Leibniz und Newton erfundene Differential - und Integralrechnung seinen großen Wert als Erkenntnismittel und Instrument unseres Geistes bewiesen; eine weitergehende Bedeutung kann dasselbe nicht für sich in Anspruch nehmen.
Vielleicht sind Sie zu Ihrer Fragestellung durch eine Bemerkung in meinem Aufsatze "Über verschiedene Theoreme aus der Theorie der Punktmengen" in Acta mathematica, t. VII, p. 123 veranlaßt worden, wo ich unter anderen Cauchy als Gewährsmann für meine Ansicht in bezug auf die Konstitution der Materie genannt; ich habe hierbei besonders denjenigen Bestandteil meiner Hypothese im Auge gehabt, in welchem ich die strenge räumliche Punktualität oder Ausdehnungslosigkeit der letzten Elemente, wie sie nach dem Vorgange Leibnizens auch von dem Pater Boskovic, in dessen Schrift "Theoria philosophiae naturalis redacta ad unicam legem virium in natura existentium, Venetiis, 1763" gelehrt wurde, behaupte; und allerdings findet sich diese Ansicht von Cauchy in seinen "Sept lecons" und vor ihm von Andre Marie Ampere (Cours du College de France 1835-1836), nach ihm von de Saint-Venant (Vergl. dessen "Memoire sur la question de savoir s'il existe des masses continues, et sur la nature probable des dernieres particules des corps". Bulletin de la Societe philomatique de Paris,20 Janvier 1844; ebenso dessen größere Arbeit in den Annales de la Societe scientifique de Bruxelles, 2 annee), bei uns in Deutschland vornehmlich von H. Lotze (vergl. dessen "Mikrokosmos", Bd. I) und von G. Th. Fechner (vergl. dessen: "Über die physikalische und philosophische Atomlehre", Leipzig, 1864) meisterhaft verteidigt. Dagegen kann ich nicht in Abrede stellen, daß Canchy wenigstens in jenem Schriftchen (und wohl auch die übrigen zuletzt genannten Autoren, mit Ausnahme von Leibniz) gegen den zweiten Bestandteil meiner Hypothese, die aktual-unendliche Zahl der letzten Elemente polemisieren; mit welchem Rechte ist von mir oben gezeigt worden. Daß Cauchy jedoch bei anderen Gelegenheiten dieser das A.-U. betreffenden Meinung nicht treu geblieben ist, wie es ja auch nicht anders sein konnte, will ich später einmal nachweisen .. .
Trotz wesentlicher Verschiedenheit der Begriffe des potentiellen und aktualen Unendlichen, indem ersteres eine veränderliche endliche, über alle endliche Grenzen hinaus wachsende Größe, letzteres ein in sich festes, konstantes, jedoch jenseits aller endlichen Größen liegendes Quantum bedeutet, tritt doch leider nur zu oft der Fall ein, daß das eine mit dem ändern verwechselt wird. So beruht z. B. die nicht selten vorkommende Auffassung der Differentiale, als wären sie bestimmte unendlich kleine Größen (während sie doch nur veränderliche, beliebig klein anzunehmende Hilfsgrößen sind, die aus den Endresultaten der Rechnungen gänzlich verschwinden und darum schon von Leibniz als bloße Fiktionen charakterisiert werden, z. B. in der Erdmannschen Ausgabe, S. 436), auf einer Verwechselung jener Begriffe. Wenn aber aus einer berechtigten Abneigung gegen solches illegitime A. U. sich in breiten Schichten der Wissenschaft, unter dem Einflusse der modernen epikureisch-materialistischen Zeitrichtung, ein gewisser Horror Infiniti ausgebildet hat, der in dem erwähnten Schreiben von Gauß seinen klassischen Ausdruck und Rückhalt gefunden, so scheint mir die damit verbundene unkritische Ablehnung des legitimen A. U. kein geringeres Vergehen wider die Natur der Dinge zu sein, die man zu nehmen hat, wie sie sind, und es läßt sich dieses Verhalten auch als eine Art Kurzsichtigkeit auffassen, welche die Möglichkeit raubt, das A. U. zu sehen, obwohl es in seinem höchsten, absoluten Träger uns geschaffen hat und erhält und in seinen sekundären, transfiniten Formen uns allüberall umgibt und sogar unserm Geiste selbst innewohnt.
Eine andere häufige Verwechselung geschieht mit den beiden Formen des aktualen Unendlichen, indem nämlich das Transfinite mit dem Absoluten vermengt wird, während doch diese Begriffe streng geschieden sind, insofern ersteres ein zwar Unendliches, aber doch noch Vermehrbares, das letztere aber wesentlich als unvermehrbar und daher mathematisch undeterminierbar zu denken ist; diesem Fehler begegnen wir z. B. im Pantheismus, und er bildet die Achillesferse der Ethik Spinozas, von welcher zwar F.H.Jacobi behauptet hat, daß sie mit Vernunftgründen nicht zu widerlegen sei. Auch bemerkt man, daß sich seit Kant die falsche Vorstellung unter den Philosophen einbürgert, als sei das Absolute die ideale Grenze des Endlichen, während in Wahrheit diese Grenze nur als ein Transfinitum, und zwar als das Minimum alles Transfiniten (entsprechend der von mir mit ω bezeichneten, kleinsten überendlichen Zahl) gedacht werden kann. Ohne ernste kritische Vorerörterung wird der Unendlichkeitsbegriff von Kant in dessen "Kritik der reinen Vernunft", in dem Kapitel über die "Antinomien der reinen Vernunft" an vier Fragen behandelt, um den Nachweis zu liefern, daß sie mit gleicher Strenge bejaht und verneint werden können. Es dürfte kaum jemals, selbst bei Mitberücksichtigung der Pyrrhonischen und Akademischen Skepsis, mit welcher Kant so viele Berührungspunkte hat, mehr zur Diskreditierung der menschlichen Vernunft und ihrer Fähigkeiten geschehen sein, als mit diesem Abschnitt der "kritischen Transzendentalphilosophie". Ich werde gelegentlich zeigen, daß es diesem Autor nur durch einen vagen, distinktionslosen Gebrauch des Unendlichkeitsbegriffs (wenn unter solchen Verhältnissen überhaupt noch von Begriffen die Rede sein kann) gelungen ist, seinen Antinomien Geltung zu verschaffen, und dies auch nur bei denen, die gleich ihm einer gründlichen mathematischen Behandlung solcher Fragen gern ausweichen1.
Hier möchte ich auch auf zwei Angriffe antworten, welche gegen meine Arbeiten unternommen worden sind.
Herbart faßt bekanntlich die Definition des Unendlichen so, daß unter sie nur das potentiale unendliche fallen kann, um darauf einen sogenannten Beweis zu gründen, daß das A. U. in sich widersprechend sei. Er hätte mit demselben Rechte den Kegelschnitt als eine Kurve definieren können, deren Punkte von einem Zentrum alle gleich weit abstehen, um darauf fußend, gegen Apollonios von Perga den Satz zu vertreten: "Es gibt keine anderen Kegelschnitte als den Kreis und, was du da Ellipse, Hyperbel und Parabel nennst, sind widerspruchsvolle Begriffe." Von solcher Ware sind die Einwände, welche die Herren Herbartianer gegen meine "Grundlagen" vorgebracht haben. (Vergl. Zeitschr. f. exakte Philos. von Th. Allihn und A. Flügel, Bd. 12, S. 389.)
Herr W. Wundt nimmt in zweien seiner Schrifteil, in seiner "Logik, Bd. II", sowie in der Abhandlung "Kants kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit, Philos. Studien, Bd. II", wenn auch in eigenartiger Weise, bezug auf meine Arbeiten, und es treten bei ihm die von mir eingeführten Worte "transfinit = überendlich" des öfteren hervor: doch kann ich nicht finden, daß er mich richtig verstanden habe.
In dem ersteren Werke stellt z. B. der ganze Satz, S. 127 unten, welcher anfängt mit den Worten: "Wenn wir eine ..." das genaue Gegenteil vom Richtigen dar. Auch werden die Begriffe des potentialen und aktuellen Unendlichen (welche ich in meinen "Grundlagen" uneigentlich-Unendliches und Eigentlich-Unendliches genannt habe) von ihm ganz falsch bestimmt. Die Zusammenstellung mit Hegel muß gleichfalls als unzutreffend abgelehnt werden. Der pantheistisciie Hegel kennt keine wesentlichen Unterschiede im A. U., während es doch gerade das mir Eigentümliche ist, solche Unterschiede, die ich fand, scharf hervorgehoben und durch Aufdeckung des fundamentalen Gegensatzes von "Mächtigkeit" und "Ordnungszahl" bei Mengen, den Herr Wundt ganz übersehen zu haben scheint, obgleich er fast auf jeder Seite meiner Arbeiten zur Geltung kommt, streng mathematisch ausgebildet zu haben. Ebensowenig Ähnlichkeit haben meine Untersuchungen mit den "mathematischen", mit denen sie gleichwohl von Herrn Wundt in eine Linie gestellt werden. Die Begriffsschwankungen und die damit zusammenhängende Verwirrung, welche seit ungefähr hundert Jahren zuerst vom fernen Osten Deutschlands her in die Philosophie hineingetragen wurden, zeigen sich nirgends deutlicher als in den das Unendliche betreffenden Fragen, wie aus unzählig vielen, sei es kritizistisch oder positivistisch, psychologistisch oder philologistisch gehaltenen Publikationen unsrer heutigen philosophischen Literatur hervorgellt. Nicht unerwähnt kann es daher bleiben, daß Herr Wundt das Wort "Infinitum" ausschließlich in der Bedeutung des potentialen Unendlichen gebrauchen will. Nun ist aber dieses Wort von altersher ganz allgemein auf den positivsten aller Begriffe, den Gottes, bezogen worden; man muß über den sonderlichen Einfall staunen, wonach das Wort "Infinitum" fortan nur in dem allereingeschränktesten, synkategorematischen Sinne verwandt werden solle.


Cantor, Georg
In: Gesammelete Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts (hrsg. Ernst Zermelo). Berlin Heidelberg New York 1980, S.370-377
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