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Konkrete Kunst




Alle Künste kommen aus der gleichen und aus einer einzigen Wurzel. Folglich sind alle Künste identisch.
Aber das geheimnisvolle und kostbare ist, daß die aus demselben Stamm herrührenden «Früchte» verschieden sind. Die Verschiedenheit entsteht durch die Mittel jeder einzelnen Kunst - durch die Mittel des Ausdrucks.
Das ist sehr einfach im ersten Moment. Die Musik drückt sich durch den Ton aus, die Malerei durch die Farbe, undsoweiter. Allgemein bekannte Dinge.
Aber die Unterschiede endigen nicht hier. Die Musik, zum Beispiel, braucht für ihre Mittel (die Klänge) die Zeit und die Malerei braucht für die ihrigen (die Farben) die Fläche. Zeit und Fläche müssen genau «bemessen» sein und Klang und Farbe müssen genau «begrenzt» sein - diese «Begrenzungen» sind die Grundlage des «Gleichgewichtes» und also der Komposition.
Rätselhafte Gesetze, in der Komposition aber von großer Bestimmtheit, zerstören die Unterschiede, weil diese Gesetze in allen Künsten dieselben sind.
Nebenbei möchte ich sehr unterstreichen, daß der «organische Unterschied» von Zeit und Fläche im allgemeinen übertrieben wird. Der Komponist nimmt den Zuhörer bei der Hand, läßt ihn in sein musikalisches Werk eindringen, führt ihn Schritt für Schritt und verläßt ihn, wenn «das Stück» zu Ende ist. Die Führung ist vollkommen. Sie ist unvollkommen in der Malerei. Aber! . . . Der Maler kann sich ihrer ebenfalls bedienen. Er kann, wenn er will, den Beschauer zwingen, «hier» anzufangen, einen genauen Weg in seinem Bild zu verfolgen und es «dort» zu verlassen. Das sind außerordentlich komplizierte Fragen, noch sehr wenig bekannt und vor allem wenig abgeschlossen. Ich wollte nur sagen, daß die Verwandtschaft zwischen der Malerei und der Musik offensichtlich ist. Aber sie offenbart sich noch tiefer. Sie kennen sicher die Frage der «Assoziationen», hervorgerufen durch die Mittel der verschiedenen Künste? Einige Wissenschafter (vor allem die Physiker) und einige Künstler (vor allem die Musiker) haben seit langem schon beobachtet, daß zum Beispiel ein musikalischer Klang die Assoziation einer bestimmten Farbe hervorruft. (Siehe die festgelegten Übereinstimmungen von Skrjabin.) Anders ausgedrückt: Sie «hören» die Farbe und Sie «sehen» den Ton.
Es werden bald 30 Jahre sein, daß ich ein kleines Buch veröffentlicht habe, welches diese Frage ebenfalls behandelt, («Über das Geistige in der Kunst», München 1912). Das Gelb zum Beispiel hat die spezielle Fähigkeit zu «Steigen», immer höher, bis es für Ohr und Geist unerträgliche Höhen erreicht: der Ton einer Trompete, immer höher gespielt, immer «zugespitzter» tut Ohr und Geist weh. Das Blau hingegen, mit seiner entgegengesetzten Kraft des «Niedersteigens» in unendliche Tiefen assoziiert den Ton der Flöte (wenn das Blau hell ist), denjenigen des Cello (wenn es dunkler wird, «herabsteigt») schließlich jenen großartigen tiefen Ton des Kontra-Basses und endlich: «sehen» Sie in den tiefsten Orgeltönen die Tiefen des Blau. Das gut ausgewogene Grün entspricht den mittleren und breiten Tönen der Geige. Richtig aufgesetzt, kann Rot (Zinnober) den Eindruck starker Trommelschläge vermitteln, undsoweiter.
Die Vibrationen der Luft (der Ton) und des Lichts (die Farbe) bilden sicher die Grundlage dieser physischen Verwandtschaft.
Aber das ist nicht die einzige Grundlage. Es gibt noch eine andere : die psychologische Grundlage. Problem des «Geistes».
Haben Sie Ausdrücke gehört, oder haben Sie sie selbst gebraucht, wie: «Oh, welch kalte Musik!» oder: «Oh, welch eisige Malerei!» Sie haben das Gefühl von eisiger Luft, wie sie im Winter durch ein offenes Fenster hereindringt. Und ihr ganzer Körper ist unzufrieden.
Plötzlich aber wird Ihnen heiß - weil der Maler oder der Komponist durch die richtige Anwendung von warmen Tönen und Klängen «warme» Werke geschaffen hat. Es brennt Sie direkt. Verzeihen Sie mir, aber es sind wirklich Malerei und Musik, welche Ihnen (selten immerhin) Leibweh machen können.
Sie kennen sicher auch den Fall, daß Ihr Finger, wenn er im Geist auf einigen Klang- oder Farbverbindungen «spazieren» geht, plötzlich wie von Dornen «gestochen» wird. Ein ander Mal aber «spaziert» Ihr Finger auf Malerei und Musik wie auf Samt oder Seide.
Und endlich - ist zum Beispiel das Violett nicht anders duftend als das Gelb? Und das Orange? Das helle Grün-Blau?
Und im «Geschmack», sind sie nicht verschieden, diese Farben? Welch schmackhafte Malerei! Die Zunge beginnt teilzunehmen am Kunstwerk. Und damit haben wir die fünf bekannten Sinne des Menschen. Täuschen Sie sich nicht, glauben Sie nicht, daß Sie die Malerei nur durch das Auge aufnehmen. Nein, Sie nehmen sie unbewußt durch Ihre fünf Sinne auf.
Was man in der Malerei unter dem Wort «Form» versteht, ist nicht die Farbe allein. Was man die «Zeichnung» nennt, ist ein anderer unumgänglicher Teil der malerischen Ausdrucksmittel.
Und, beginnend mit dem «Punkt», der Urform aller anderen Formen, deren Zahl unendlich ist - dieser kleine Punkt ist ein lebendes Sein, welches die vielfältigsten Einflüsse auf den Geist des Menschen besitzt. Wenn der Künstler ihn gut auf die Leinwand setzt, ist der kleine Punkt befriedigt und befriedigt den Beschauer. Er sagt: «Ja, das bin ich - hörst Du meinen kleinen notwendigen Klang in dem großen ,Chor' des Werkes?»
Und wie ist es peinlich, diesen kleinen Punkt dort zu sehn, wo er nicht sein sollte! Sie haben den Eindruck, Schlagrahm zu essen und Pfeffer auf der Zunge zu spüren. Eine Blume mit Modergeruch. Vermoderung - das ist das Wort! Die Komposition verwandelt sich in Zersetzung. Das ist der Tod.
Haben Sie bemerkt, obschon lange von der Malerei und ihrem Ausdrucksmitteln gesprochen wurde, habe ich nicht ein einziges Wort über den «Gegenstand» gesagt? Die Erklärung ist sehr einfach: ich habe von den wesentlichen malerischen Mitteln gesprochen, das heißt von den unumgänglichen.
Man wird niemals die Möglichkeit haben, ohne «die Farbe» und ohne «die Zeichnung» ein Bild zu schaffen, aber die Malerei ohne Gegenstände existiert in unserm Jahrhundert seit mehr als 30 Jahren. Also kann der Gegenstand in der Malerei angewandt werden oder nicht.
Wenn ich an all diese Debatten um dieses «nicht» denke, an die Debatten, die vor 30 Jahren begannen und die heute noch nicht beendet sind, so sehe ich die immense Kraft der als «abstrakt» oder «ungegenständlich» bezeichneten Malerei, die ich vorziehe «konkret» zu nennen.
Diese Kunst ist ein «Problem», das man zu oft begraben wollte, das man als definitiv gelöst meldete (im negativen Sinne natürlich), und - das sich nicht begraben läßt. Es ist zu lebendig. Im Impressionismus, im Expressionismus und Kubismus existieren keine Probleme mehr. Alle diese «Ismen» sind in verschiedene Schub-fächer der Kunstgeschichte verteilt. Diese sind numeriert und tragen ihren Inhalt anzeigende Etiketten. Und so sind die Debatten zu Ende. Es ist Vergangenheit.
Aber die Debatten um die Konkrete Kunst lassen ihr Ende nicht voraussehen. Um so besser! Die Konkrete Kunst ist in voller Entwicklung, vor allem in den freien Ländern, und die Zahl der jungen Künstler, die an dieser Bewegung teilhaben, steigt in all diesen Ländern. Dies ist die Zukunft!


Kandinsky, Wasily, 1938
In: Essays über Kunst und Kunstler (herausgegeben und kommentiert von Max Bill). Teufen 1955 S. 207-211
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